BRAK-Mitteilungen 4/2020

als Gesetzgeber die unterschiedlichen Gesellschaftsfor- men danach untersuchen, welche es dem „Unterneh- men Rechtsanwalt“ am besten ermöglicht, den gleich- wertigen Zugang zum Recht für alle herzustellen. Aller- dings ist die Frage, wie sich das Haftungsregime der Be- rufsausübungsgesellschaft auf den Zugang zum Recht und die Funktion des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege, diesen Zugang herzustellen, auswirkt, die große Leerstelle in der Diskussion. 61 61 Hierzu bereits den Nachw. bei Wolf , in FS BRAK, 2019, 63, 174; im DAV-Entwurf werden die Schlagworte „Quersubventionierung“, „Prozesskostenhilfe“ oder „Zu- gang zum Recht“ auf 41 Seiten kein einziges Mal benutzt, Begriffe wie „zeitge- mäß“, „aktuell“ oder „jüngst“ hingegen jeweils fünf bis sieben Mal verwandt. 1. ZUGANG ZUM RECHT Es ist ein Grundproblem – zumindest der deutschen Rechtswissenschaft –, dass sich über die Bedeutung des Verfahrens für die Rechtsfindung und damit für die Rol- le der Rechtsanwälte in diesem Verfahren zu wenig Ge- danken gemacht werden. Paradigmatisch für dieses Problem sind die Kommentierungen zu § 78 und § 293 ZPO. Der Sinn und Zweck von § 78 ZPO sei die Entlas- tung des Gerichts, welche im Parteiprozess eine höhere Manduktionspflicht hat. Und bei § 293 ZPO heißt es sinngemäß: Die Ermittlung des Rechts ist ein rein inter- ner Vorgang des Gerichts. 62 62 MüKo-ZPO/ Prütting , 5. Aufl. 2016, § 293 ZPO Rn. 24. Wäre dies richtig, käme der Anwaltschaft für unser Rechtssystem nur eine un- tergeordnete Bedeutung zu. Jedoch kann der Grund- satz „iura novit curia“ 63 63 MüKo-ZPO/ Prütting, § 293 ZPO Rn. 2. nicht unbegrenzt gelten, viel- mehr kommt den Rechtsanwälten bei der rechtlichen Entscheidungsfindung ein wichtiger Anteil zu. Zwar sind Richter in ihrem eigenen Selbstverständnis häufig der Ansicht, dass allenfalls ein schlechter Anwalt den Pro- zess verlieren kann, ein guter den Prozess jedoch nicht gewinnen kann. Dies sollte aber weder dem anwalt- lichen Selbstverständnis entsprechen noch ist dies in der Sache richtig. Aus abstrakten Regeln lassen sich keine konkreten Ur- teile ableiten; 64 64 Zu dieser auf Kant zurückgehenden Erkenntnis und damit zugleich zu den Grenzen von Legal Tech, Wolf/Künnen , in FS Vorwerk, 2019, 265, 366. Rechtsprechung ist ein dialogisches Verfahren, in dem wir Gründe geben und Gründe neh- men, uns von Gründen affizieren lassen, kurz die theti- sche Rede führen. „Das Recht“ ist dabei nichts vom kon- kreten Fall Abgelöstes und Feststehendes, sondern ein Ergebnis kontradiktorischer und dialektischer Erarbei- tung und Gewinnung. 65 65 Wolf , in Gaier/Wolf/Göcken, Vor § 1 RDG Rn. 11. Weil Recht nicht rechenbar ist, sondern am konkreten Fall argumentativ erarbeitet werden muss, hat die an- waltliche Tätigkeit unmittelbaren Einfluss auf die Ent- scheidungsfindung. Nicht der Richter alleine, sondern die Parteivertreter und der Richter haben in diesem Sin- ne gemeinsam das Ergebnis zu verantworten. Mit ande- ren Worten: Obwohl das Gericht in der Theorie das Recht auf den festgestellten Sachverhalt anwendet, wird dessen Rechtsauffassung durch die Ansicht der Rechtsanwälte beeinflusst und somit das Prozessergeb- nis verändert. 66 66 Wolf , in Gaier/Wolf/Göcken, Vor § 1 RDG Rn. 11. Unter den Bedingungen eines demokratischen und so- zialen Rechtsstaats muss der Anwaltsmarkt so organi- siert werden, dass die Qualität der anwaltlichen Dienst- leistung nicht von der finanziellen Leistungsfähigkeit des Mandanten abhängig ist. Es ist die Paradoxie der anwaltlichen Tätigkeit, dass diese zwar staatsfern aus- geübt werden muss, gleichzeitig aber teilnimmt an der Staatsaufgabe der Rechtsgewähr. Kurz: Es geht darum, ob den Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege nur die Grundpflichten (core values) der Unabhängigkeit, des Berufsgeheimnisses und Sachlichkeitsgebots konsti- tuieren oder ob in einem sozialen Rechtsstaat (Art. 28 GG) zu den Grundpflichten des Rechtsanwalts auch ge- hört, den streitwertunabhängigen Zugang zum Recht si- cherzustellen (§ 48 BRAO: Prozesskostenhilfe, § 49 BRAO: Pflichtverteidigung, § 49a BRAO: Beratungshil- fe). 67 67 Wolf , BRAK-Mitt. 2018, 262 (263, These 3), zum effektiven Zugang zum Recht als grundlegendem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit: Enders , in BeckOK-GG, 42. Ed. 1.12.2019, Art. 19 GG Rn. 74 ff. Um es noch deutlicher zu formulieren: Besteht nicht in den Privilegien der Rechtsanwaltschaft, welche das RDG und das Zeugnisverweigerungsrecht sowie das Beschlagnahmeverbot vermitteln, zugleich die Ver- pflichtung, den Zugang zum Recht für jeden sicherzu- stellen? 2. ANWALTLICHE UNABHÄNGIGKEIT UND ZUGANG ZUM RECHT a) INTRINSISCHE MOTIVATION Für das ursprüngliche anwaltliche Berufsrecht war die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts ein Schlüsselbegriff in doppelter Weise, nämlich zum einen in Bezug auf den Zugang zum Recht und zum anderen in Bezug auf die Einhaltung des Berufsrechts. Der Zugang zum Recht sollte über den intrinsisch motivierten Rechtsanwalt er- folgen. 68 68 Hierzu Wolf , in FS BRAK, 2019, 97 f. Dem Rechtsanwalt sollte es also nicht primär um die Gewinnerzielungsabsicht gehen, 69 69 Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Betonung liegt auf primär. Selbstver- ständlich ist das „Unternehmen Rechtsanwalt“ ein Unternehmen, welches nicht nur die Kosten, sondern auch einen Unternehmergewinn erwirtschaften muss. sondern um den inneren Ansporn, das Recht zu verwirklichen. In den Worten von Sigbert Feuchtwanger : „Das Streben, einen möglichst großen Preis zu erlangen, ist entgegengesetzt dem Streben, einen möglichst großen ideellen Wert hin- zugeben.“ 70 70 Feuchtwanger , Die freien Berufe, 1922, 67. Aufgrund dieser Selbstverpflichtung und Motivation ging der Gesetzgeber der Reichsrechtsanwaltsordnung davon aus, dass jeder „Rechtsanwalt in allen Fällen, in denen seine Thätigkeit in Anspruch genommen wird, seinen Beruf ausüben werde.“ 71 71 Drucksache des Reichstags, 3. Leg. Per. II Session, 1878, Bd. 53 Nr. 5, 80 f. Aus diesem Grund ver- zichtete er auch auf einen Kontrahierungszwang, der ei- gentlich ein typisches Instrument zur Absicherung der Quersubvention ist. In dieses, auf intrinsische Motiva- BRAK-MITTEILUNGEN 4/2020 AUFSÄTZE 190

RkJQdWJsaXNoZXIy MTE1Mzg3