BRAK-Mitteilungen 4/2020

woraufhin die Bekl. dem Kl. mit E-Mailschreiben v. 18.12.2018 bestätigte, dass hiervon noch vier Stunden auf das Jahr 2017 „verbucht“ wurden und eine Stunde auf das Jahr 2018, sodass für das laufende Jahr noch ein Defizit von 14 Zeitstunden verbliebe. Aus diesem zeitlichen Ablauf wird deutlich, dass die Bekl. ein Defizit für 2017 mit im Jahre 2018 besuchten Fortbildungsveranstaltungen verrechnet hatte und so- mit in voller Tatsachenkenntnis kein Widerrufsverfahren eingeleitet hat. b) Soweit sich der Widerruf auf das Fortbildungsdefizit für die Jahre 2018 und 2019 bezieht, ist er ermessens- fehlerhaft. Bei der Entscheidung der Rechtsanwaltskam- mer über den Widerruf handelt es sich um eine Ermes- sensentscheidung. Sie hat dabei alle Umstände des Ein- zelfalls, wie z.B. unverschuldetes Versäumnis aufgrund der Krankheit des Rechtsanwalts zu berücksichtigen. In dem streitgegenständlichen Fall ist zu berücksichti- gen, dass der Kl. mit Zustimmung der Bekl. über mehre- re Jahre nicht kalenderjährlich erbrachte Fortbildungs- leistungen im folgenden Jahr nachgeholt und diese auf das vorangegangene Jahr „verbucht“ hat. Eine derarti- ge Verrechnung ist bei einem engen zeitlichen Zusam- menhang und auf Einzelfälle beschränkt nicht unzuläs- sig (so Hessischer AGH, Urt. v. 10.12.2012 – 1 AGH 1/ 12). Der Widerruf der Erlaubnis zum Führen eines Fach- anwaltstitels wäre jedenfalls dann nicht ermessensfeh- lerhaft, wenn der Rechtsanwalt mehrfach Fristen zur Nachholung der Fortbildung ungenutzt hat verstreichen lassen (BGH, Urt. v. 26.11.2012 – AnwZ (Brfg) 56/11). Diese Folgerung hat die Bekl. aber bis zum Jahr 2019 nicht gezogen. Aus dem Bild, das sich dem Senat aus der Auswertung der (nicht paginierten und daher auf Vollständigkeit nicht überprüfbaren) Beiakte der Bekl. und dem Ein- druck in der mündlichen Verhandlung ergibt sich viel- mehr, es habe über die Jahre eine „Verrechnung“ statt- gefunden. Denn anders lässt sich nicht erklären, dass die Bekl. trotz des von ihr dokumentierten Defizits seit 2011 kein Widerrufsverfahren eingeleitet, sondern dem Kl. in den Folgejahren – wie z.B. mit Schreiben v. 1.3.2017 für ein in 2016 entstandenes Defizit – immer wieder aufgegeben hat, die im Vorjahr fehlenden Stun- den bis zu einer gesetzten Frist nachzuholen. Zwar kann sich der Kl. nicht darauf berufen, die Bekl. hätte ihn nicht richtig über seine Fortbildungspflichten unterrich- tet; denn die Fortbildungsverpflichtung gem. § 15 FAO ist als Bringschuld ausgestaltet. Allerdings musste die Bekl. ihr eigenes -vertrauenbildendes – Verhalten ge- genüber dem Kl. bei ihrer Ermessensentscheidung be- rücksichtigen. Dies ist im Rahmen des Widerrufsverfah- rens und auch bei der Entscheidung über den Widerruf unterblieben. Erwägungen dazu, wie diese vertrauens- bildenden Maßnahmen in der Entscheidung zu berück- sichtigen waren, finden weder sich in den Akten noch in den prozessualen Ausführungen der Bekl. Soweit die Bekl. ihre Widerrufsverfügung auf Fortbil- dungsdefizite in den Jahren 2011 bis 2017 stützt, steht der Berücksichtigung dieser Jahre die Jahresfrist des § 25 II FAO entgegen. Soweit im Widerrufsbescheid von einem Defizit von 5 Stunden für das Jahr 2018 ausge- gangen wird, rechtfertigt dies den Widerruf nicht. Denn aus dem Schreiben der Bekl. v. 5.6.2019 ergibt sich, dass sie entsprechend ihrer bisherigen Praxis bereit sei, den Nachweis für das vergangene Jahr 2018 noch in 2019 zu akzeptieren. Dies ergibt sich nach dem Ver- ständnis des Senats insbesondere aus dem E-Mail- schreiben des Geschäftsführers der Bekl. v. 14.6.2019 an den Kl., in dem seine Ankündigung, weitere Fortbil- dungsveranstaltungen im Jahre 2019 zu besuchen, dankend zur Kenntnis genommen und davon „ausge- gangen“ wird, dass der Kl. seine Fortbildungspflicht er- füllen werde. Aufgrund der mehrjährigen Praxis der Bekl. gegenüber dem Kl. konnte er dieses Schreiben nur so verstehen, dass – wie in den Jahren seit 2012 – vor- jährige Defizite mit der Nachholung im Folgejahr ver- rechnet würden. Das Defizit von fünf Fortbildungsstun- den für 2018 konnte mit den nachgeholten Fortbildun- gen in 2019 gedeckt und somit nach der Praxis der Bekl. „verrechnet“ werden. Dass sie diese Praxis nicht mehr ausüben würde, hat sie dem Kl. nicht verlautbart, sodass er in Vertrauen auf die bisherige Praxis auch für 2018 davon ausgehen konnte, dass die Nachholung der Fortbildung von der Bekl. akzeptiert werde. Auf fehlende Fortbildungsnachweise für das Jahr 2019 konnte der Widerruf v. 14.11.2019 nicht gestützt wer- den, da die Fortbildung gem. § 15 I FAO kalenderjähr- lich, also bis zum Ende des Jahres 2019 wahrgenom- men und nachgewiesen werden muss. 4. Nach alledem war der Klage stattzugeben. ANMERKUNG: Wer einen Fachanwaltstitel führt, muss sich nach § 15 FAO fortbilden. Die Fortbildung hat kalenderjährlich zu erfolgen, wobei der Mindestumfang 2015 von zehn auf 15 Stunden erhöht wurde. Die Erfüllung ist der Rechtsanwaltskammer unaufgefordert nachzuweisen. Mit dem Wort „kalenderjährlich“ war die Entschei- dung des BGH vorgezeichnet, wonach eine Nachho- lung nicht möglich ist (BGH, Urt. v. 8.4.2013 – AnwZ (Brfg) 16/12). Der BGH formulierte so kurz wie ein- prägsam: „Ist ein Jahr verstrichen, kann der Rechtsan- walt sich in diesem Jahr nicht mehr fortbilden.“ In der Praxis führt die Fortbildungspflicht trotz dieser einfachen Regeln zu einigen Schwierigkeiten sowohl auf Seiten der Fachanwältinnen und Fachanwälte als auch in den Rechtsanwaltskammern. Der Widerruf eines Fachanwaltstitels wegen unterbliebener Fortbil- dung kann nach § 43c IV 2 BRAO erfolgen. Die unge- nügende Erfüllung der Fortbildungspflicht führt also nicht automatisch zum Widerruf des Fachanwalts- titels, sondern eröffnet der Rechtsanwaltskammer Er- messen, welches sie pflichtgemäß ausüben muss. Der BGH hat bereits am 2.4.2001 (AnwZ (B) 37/00) entschieden, dass ein Widerruf allein aufgrund der fehlenden Vorlage der Fortbildungsnachweise nicht ermessensgerecht ist. In seiner Entscheidung v. FACHANWALTSCHAFTEN BRAK-MITTEILUNGEN 4/2020 BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG 220

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