BRAK-Mitteilungen 4/2020

trollzweck nicht erreicht werden könne (Urt. v. 14.1.2016 – I ZR 107/14 Rn. 44 ff., 47), spricht dies nicht für eine ausweitende Auslegung im vorliegenden Fall. Der BGH hatte sich mit der Frage beschäftigt, ob eine Rechtsdienstleitung nur bei einer besonders inten- siven und substantiellen Prüfung der Rechtslage anzu- nehmen sei, und diese Frage ausgehend vom Wortlaut der Norm, der eine solche Einschränkung nicht vorsieht, sowie der Gesetzgebungsgeschichte (s.o. BT-Drs. 16/ 6634) und der Ratio des RDG verneint. Der Begriff der Rechtsdienstleistung in § 2 I RDG erfasst nach der For- mulierung des BGH (a.a.O., 2. Leitsatz und Rn. 43) jede konkrete Subsumtion eines Sachverhaltes unter die maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen, die über eine bloß schematische Anwendung von Rechtsnormen ohne weitere rechtliche Prüfung hinausgeht, unabhängig ob es sich dabei um eine einfache oder schwierige Rechts- frage handelt. Die rechtliche Prüfung des Einzelfalles werde auch nicht dadurch überflüssig, dass ein aus standardisierten und massenhaft verwendeten Textbau- steinen zusammengesetztes Musterschreiben für einen konkreten Fall angepasst werde (a.a.O. Rn. 51). Dass es für eine Rechtsdienstleistung keiner besonderen Prü- fungstiefe bedarf, besagt nicht, dass allein schon die Komplexität einer schematischen Anwendung das Tat- bestandsmerkmal einer „rechtlichen Prüfung“ erfüllt. 3. Anknüpfend an den Wortlaut des § 2 I RDG unter Be- rücksichtigung der o.a. Vorstellungen des Gesetzgebers sowie Sinn und Zweck der Norm hat die Bekl. keine un- erlaubte Rechtsdienstleistung erbracht. a) „Tätigkeit“ meint eine menschliche oder zumindest menschliche Tätigkeit erforderlich mitdenkende Aktivität. Dies folgt aus den Ausführun- gen in der Gesetzesbegrün- dung (BT-Drs. 16/3655) zur rechtlichen Prüfung, nämlich dass stets ein juristischer Subsumtionsvorgang auf Seiten des Dienstleistenden notwendig ist, der auch nach der Beschlussempfehlung (BT-Drs. 16/6634) über die bloße Anwendung von Rechtsnormen auf einen Sachverhalt hinausgehen muss. Ein solcher mehr als rein schematisch ablaufen- der Subsumtionsvorgang ist bei einem einfachen IT-Pro- gramm der vorliegenden Art, das schematisch vorgege- bene Ja-/Nein-Entscheidungsstrukturen abarbeitet, nicht gegeben. Ob eine Tätigkeit i.S.d. § 2 I RDG beim Einsatz sog. künstlicher Intelligenz in Betracht kommt, kann dahinstehen. Daraus, dass die Tätigkeit mittels moderner Kommuni- kationstechnik erfolgen kann (s.o. BT-Drs. 16/3655, zum Erfordernis der Einzelfallprüfung, nicht zum Tatbe- standsmerkmal „Tätigkeit“; vgl. auch Kleine-Cosack , RDG, 3. Aufl., § 2 Rn. 5), der Rechtssuchende also kei- nen persönlichen Kontakt zum Rechtsdienstleister auf- nehmen muss, kann nicht gefolgert werden, dass ein Computerprogramm als solches eine Tätigkeit i.S.d. § 2 I RDG entfalten kann. Soweit der Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des RDG (s. Bl. 137 ff. GA) in § 2 I den Zusatz „Eine Tä- tigkeit im Sinne des Satzes 1 kann ganz oder teilweise automatisiert erbracht werden“ vorsieht, das Anbieten von automatisierten Rechtsdienstleistungen aufgrund besonderer Sachkunde ermöglichen möchte und meint, die Änderung, dass auch Prozesse informationstechni- scher Systeme eine Rechtsdienstleistung darstellen kön- ne, habe rein klarstellende Funktion, ist dem der Vor- stand der Kl. selbst in einer Stellungnahme v. 3.7.2019 (s. Bl. 145 ff. GA) zu Recht und mit überzeugender Be- gründung entgegengetreten: „Ein Automat kann zwar hilfreich sein bei der rechtlichen Prüfung im Einzelfall, aber er kann diese nicht selbst durchführen ... Die Vor- stellung, dass Rechtsdienstleistung automatisiert er- bracht werden können, ist also keine Ergänzung son- dern eine Fiktion.“ Außerdem sind für die Auslegung des geltenden Rechts die Vorstellungen des Gesetzgebers zum Modernisie- rungsentwurf weder bindend noch maßgeblich, auch nicht der Beschluss der 90. Justizministerkonferenz (s. Bl. 107 f. GA) oder der Abschlussbericht der Länderar- beitsgruppe (s. Bl. 109 ff. GA) zu Legal Tech: Herausfor- derungen für die Justiz. Als Handlung verbleibt daher auch vor dem Hintergrund der Gesetzesmaterialien im vorliegenden Fall nur das Programmieren und Bereit- stellen des Programms durch die Bekl. einerseits und andererseits die Anwendung des Programms durch den Nutzer. b) Das Programmieren der abstrakten rechtlichen Ent- scheidungsbäume und Bereitstellen des streitgegen- ständlichen Programms führt mangels Tätigkeit in einer konkreten fremden Angelegenheit noch nicht in den An- wendungsbereich des RDG (s. Wessels , MMR 2020, 59). Die Prüfung muss sich auf einen tatsächlichen, nicht nur fiktiven Fall beziehen, so dass die Absicht, bei der Konstruktion alle denkbaren Fälle zu erfassen, nicht ausreicht ( Wettlaufer , MMR 2018, 55, 56). Der Ansicht, für die Annahme einer „konkreten“ Angele- genheit spreche, dass der Fragenkatalog sowohl wegen der Menge der Fragen als auch aufgrund ihrer Spezifi- tät über das Format eines üblichen Formularhandbuchs hinausgehe, mit einer menschlichen Beratung vergleich- bare Alternativvorschläge gemacht und eine rechtliche Überprüfung geleistet werde (s. Dahns , NJW-Spezial 2019, 766), kann nicht beigetreten werden. c) Die Formulierung in § 2 I RDG, dass eine Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten Rechtsdienstleis- tung ist, „sobald“ sie eine rechtliche Einzelfallprüfung erfordert, ermöglicht eine Auslegung dahingehend, dass die Anwendung des Programms durch den Nutzer (im konkreten und aus Sicht der Bekl. dann auch frem- den Einzelfall) das (zunächst abstrakte) Dienstleistungs- angebot in eine Rechtsdienstleistung überführt, weil die Nutzung des Programms von der Bekl. intendiert und insoweit auch zurechenbar ist. Als Zurechnungstatbe- stand kommt die Eröffnung einer Gefahrenquelle im Schutzbereich des RDG in Betracht (vgl. Wessels , MMR 2020, 59). Sinn und Zweck des RDG ist es, den Rechts- suchenden – sei er Verbraucher, sei er Unternehmer –, BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG BRAK-MITTEILUNGEN 4/2020 229

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