BRAK-Mitteilungen 3/2021

den Verfahren durch äußerst umfang- und detailreiche Argumentationen und Auseinandersetzungen zu einer Vielzahl komplexer kartellrechtlicher Fragestellungen aus, wofür allein schon der Umfang der Akten nebst An- lagen ein äußerlich unschwer zu übersehendes Anzei- chen gibt. [290] Insoweit kommt es auch nicht darauf an, ob bei der Kl. bzw. der XXX-Gruppe vertiefte Kenntnisse im Kar- tell(schadensersatz)recht vorhanden gewesen sein mö- gen (...). Auf das konkrete Vorhandensein von solchen Kenntnissen bei einem Inkassounternehmen im Einzelfall kann schon deshalb nicht abgestellt werden, weil sonst etwa der wechselnde Zu- oder Abgang von Personen mit diesen Kenntnissen jeweils ein anderes Ergebnis begrün- den würde und etwa eine zunächst unwirksame Abtre- tung nachträglich wirksam oder umgekehrt eine zu- nächst wirksame Abtretung unwirksam machen könnte. Dies ist mit dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren. Im Übrigen bliebe unklar, wo und wie das Vorhandensein solcher Kenntnisse zu prüfen sein sollte. [291] (e) Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass bei allen vier genannten Faktoren jeweils weitreichend vom Leitbild abgewichen wird. Zumal in der Gesamtheit bedingen diese Abweichungen, dass keine Inkasso- dienstleistung i.S.d. §§ 10 I 1 Nr. 1, 2 II 1 RDG (mehr) gegeben ist. [292] (5) Unabhängig von der Leitbildabwägung ist der Inkassodienstbegriff zudem auch allein mit Blick auf die zu bearbeitende sachliche Rechtsmaterie des Kartell- rechts nicht erfüllt (vgl. § 11 I RDG) (vgl. LG Hannover, Urt. v. 4.5.2020 – 18 O 50/16 Rn. 171 ff. juris; zustim- mend: Prütting , a.a.O. 1437; Nuys/Gleitsmann , a.a.O. 2444). [293] (a) Bereits das BVerfG betonte, die Kenntnisse welcher Rechtsmaterien für die Zulassung als Inkasso- dienstleister ausschlaggebend sein sollten: „In Verfol- gung dieses Schutzzwecks darf die Erlaubnis zur Besor- gung fremder Rechtsangelegenheiten nur erteilt wer- den, wenn neben der persönlichen Zuverlässigkeit beim Erlaubnisinhaber auch Eignung und genügend Sach- kunde vorhanden sind. Dementsprechend werden in der Zulassungsprüfung von dem Ast., der die Erteilung einer Rechtsberatungserlaubnis für das Inkassoge- schäft erstrebt, unter anderem profunde Kenntnisse in den ersten drei Büchern des Bürgerlichen Gesetzbuchs (Allgemeiner Teil, Recht der Schuldverhältnisse, Sachen- recht), handels- und gesellschaftsrechtliche Kenntnisse, Grundkenntnisse auf dem Gebiet des Wertpapierrechts, spezielle Kenntnisse des Gesetzes zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, des Verbraucherkreditgesetzes, des Gesetzes über den Wi- derruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäf- ten verlangt (vgl. Caliebe , in Seitz, Inkasso-Hdb., Rn. 1100, 1225 ff.). Im Verfahrensrecht sind Kenntnisse im Mahnverfahren, im Vollstreckungsrecht, im Konkurs- vergleichs- und Insolvenzrecht und im Kostenrecht er- forderlich (vgl. Caliebe , in Seitz, Inkasso-Hdb., Rn. 1230).“ (BVerfG, NJW 2002, 1190, 1191). [294] Dem entspricht die Regelung der Sachkunde- erfordernisse in § 11 I RDG weithin. [295] Nach Maßgabe von § 10 I 1 Nr. 1 RDG dürfen In- kassodienstleistungen durch die betreffenden Unter- nehmen gerade „aufgrund besonderer Sachkunde“ er- bracht werden. Der Sachkundenachweis ist Grundbe- dingung dafür, Rechtsdienstleistungen entsprechend freizugeben. Damit wird auf die Regelung des § 11 RDG Bezug genommen. Auch der BGH geht zutreffend davon aus, dass die Zulässigkeit einer Inkassodienstleis- tung auf die Rechtsgebiete beschränkt ist, für welche der Sachkundenachweis zu erbringen ist (BGH, Urt. v. 27.11.2019 – VIII ZR 285/18, BeckRS 2019, 30591, Rn. 214: „Eine Unzulässigkeit der Inkassodienstleistung könnte sich daraus ergeben, dass die Tätigkeiten ihre Inkassobefugnis nach § 10 I 1 Nr. 1 RDG deshalb über- schritten hätte, weil die von ihr mit der Registrierung als Inkassodienstleisterin nachgewiesene Sachkun- de [...] hierfür nicht ausreichte“). [296] Nach diesen Grundsätzen besteht für Inkasso- Keine Sachkunde für Kartellrecht dienste – und damit auch für die Kl. – keine Sachkun- de für das Kartellrecht (vgl. Prütting , a.a.O., 1437; Nu- ys/Gleitsmann , a.a.O., 2444). Insbesondere sind Kennt- nisse des Kartellrechts als gesonderte, nicht im BGB ge- regelte Materie nicht unter den Begriff des „Bürger- lichen Rechts“ in § 11 I RDG zu subsumieren. [297] Die Aufzählung der Rechtsgebiete in I ist zwar nach dem Gesetzeswortlaut („insbesondere“) nicht ab- schließend (Deckenbrock/Henssler/ Rillig , 4. Aufl. 2015, RDG, § 11 Rn. 4), doch ist in den Gesetzesmaterialien niedergelegt, dass „Maßstab für die Auswahl der Rechtsgebiete die bislang schon in den Sachkundeprü- fungen von Inkassounternehmern verlangten Leistun- gen (sind), die auch nach der Rechtsprechung des BVerfG Voraussetzung für die Tätigkeit im Bereich des Forderungsinkassos sind“ (s. auch Siegmund , in Gaier/ Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 3. Aufl. 2020, § 11 RDG Rn. 5). Es ist nicht ersichtlich, dass das in sei- ner heutigen Gestalt noch relativ neue Kartellschadens- ersatzrecht mit seinen typischerweise (wie auch vorlie- gend) sehr hohen Forderungsbeträgen unter diese gleichsam „klassischen“ Inkasso-Rechtsgebiete fiele. [298] (b) Aus § 11 I RDG ist zu folgern, dass das Inkas- sounternehmen die betreffenden Kenntnisse selbst ha- ben muss und es nicht genügt, wenn fehlende eigene Kenntnisse durch einen Rechtsanwalt, den das Inkasso- unternehmen beauftragt, beigesteuert werden. Insofern verbleibt es bei den Ausführungen zur Gesetzgebungs- geschichte mit Blick auf die Streichung des § 5 III RDG- E. Die wesentlichen Argumente des BGH gegen eine solche Kompetenzkompensation – nämlich: keine eige- nen unmittelbaren Ansprüche, insbesondere Schadens- ersatzansprüche, des zu Beratenden; mögliche Interes- senkonflikte; Verfahrensherrschaft des den Rechtsan- walt mandatierenden Dienstleisters – sind auch dann einschlägig, wenn der Rechtsdienstleister ein Inkasso- BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG BRAK-MITTEILUNGEN 3/2021 181

RkJQdWJsaXNoZXIy ODUyNDI0