BRAK-Mitteilungen 4/2022

AUFSÄTZE DIE ENTWICKLUNG DES ZIVILVERFAHRENSRECHTS RECHTSANWALT DR. MICHAEL L. ULTSCH* * Der Autor ist Rechtsanwalt in München, Mitglied des BRAK-Ausschusses ZPO/GVG und Lehrbeauftragter an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Aufsatz berichtet über aktuelle Probleme und Entwicklungen des nationalen und internationalen Zivilverfahrensrechts. Er knüpft an die Berichterstattung von Schultz (zuletzt BRAK-Mitt. 2019, 174) an. I. RECHTSPRECHUNG 1. GERICHTE UND RICHTER a) NEGATIVER KOMPETENZKONFLIKT ZWISCHEN GERICHTEN VERSCHIEDENER GERICHTSBARKEITEN Die gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 ZPO gilt primär für die örtliche und sachliche Zuständigkeit. Bei negativen Kompetenzstreitigkeiten unter den Rechtswegen ist § 36 I Nr. 6 ZPO in Ausnahmefällen entsprechend anwendbar, obwohl ein nach § 17a GVG ergangener und unanfechtbar gewordener Beschluss, mit dem ein Gericht den beschrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verwiesen hat, nach dem Gesetz keiner weiteren Überprüfung unterliegt. Eine regelmäßig deklaratorische Zuständigkeitsbestimmung entsprechend § 36 I Nr. 6 ZPO ist im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit geboten, wenn es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung der Verweisung kommt und deshalb keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten, oder wenn die Verfahrensweise eines Gerichts die Annahme rechtfertigt, dass der Rechtsstreit von diesem nicht prozessordnungsgemäß gefördert werden wird, obwohl er gem. § 17b I GVG von ihm anhängig ist. Eine Abänderung des Beschlusses nach § 17a GVG und damit eine Durchbrechung der Bindungswirkung ist aber nur in eng auszulegenden Ausnahmefällen bei „extremen Verstößen“ gegen die den Rechtsweg und seine Bestimmung regelnden materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften möglich.1 1 BGH, Beschl. v. 20.4.2021 – X ARZ 562/20, BeckRS 2021, 11171. b) AUFRECHNUNG BEGRÜNDET KEINE ZUSTÄNDIGKEIT Ob eine gesetzliche Zuständigkeit einer aufgrund § 72a I GVG eingerichteten Spezialkammer begründet ist, bestimmt sich nach dem Streitgegenstand. Abzustellen ist das Rechtsschutzbegehren, also auf die Sachanträge, in denen sich die in Anspruch genommenen Rechtsfolgen konkretisieren, und auf den Lebenssachverhalt (Anspruchsgrund), aus dem die begehrten Rechtsfolgen hergeleitet werden. Das Rechtsschutzbegehren bestimmt in erster Linie das Begehren der Kläger, so dass auf die Klageschrift und auf eventuelle Klageerweiterungen abzustellen ist. Allein die Aufrechnung mit einer Forderung, die unter die in § 72a I GVG genannten Sachgebiete fällt, begründet keine Zuständigkeit nach § 72a I GVG.2 2 OLG Schleswig, Beschl. v. 1.7.2021 – 2 AR 20/21, NJW 2022, 82. c) BAYOBLG Seit 2018 hat der Freistaat Bayern wieder sein Oberstes Landesgericht. Es verhandelt und entscheidet nach Art. 11 XXI BayAGGVG über alle zur Zuständigkeit des BGH gehörenden und nach § 8 EGGVG übertragbaren Revisionen und Rechtsbeschwerden, also solche in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten über Landesrecht. Insbesondere die Nichtzulassungsbeschwerde (§ 543 I Nr. 2, 544 ZPO) ist stets beim BGH einzulegen, § 7 II 1 EGZPO. Die Einlegung beim BayObLG3 3 Anwaltsfehler: BayObLG, Beschl. v. 2.9.2020 – 101 ZBR 102/20. ist nicht fristwahrend. Ist die Zuständigkeit des BayObLG begründet, erklärt sich der BGH nach § 7 II 2 EGZPO durch Beschluss für unzuständig und übersendet dem BayObLG die Prozessakten.4 4 BGH, Beschl. v. 14.10.2021 – V ZR 41/21, BeckRS 2021, 34667. d) RICHTERABLEHNUNG BEI ATYPISCHER VORBEFASSUNG IN DER REFERENDARAUSBILDUNG Liegt ein Grund vor, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen, kann ein Richter abgelehnt werden, § 42 II ZPO. Ein solcher Grund kann vorliegen, wenn der zur Entscheidung berufene Richter während seines Referendariats oder als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einer Kanzlei tätig war, die von einer beteiligten Prozesspartei mit der Führung des Rechtsstreits sowie weiterer dazu in Sachzusammenhang stehender Rechtsstreitigkeiten betraut ist, und in diesem Zusammenhang an der Erarbeitung von Schriftsätzen in parallel gelagerten Gerichtsverfahren mitgewirkt hat und bei der außergerichtlichen Beratung in die Klärung übergeordneter Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Verteidigung gegen derartige zivilrechtliche Ansprüche eingebunden war.5 5 BGH, Beschl. v. 21.9.2021 – KZB 16/21, NJW-RR 2022, 209. e) BÖSER SCHEIN DER PARTEILICHKEIT Unter den vom Dieselskandal betroffenen Bürgern sind auch Richter. Der Bundesgerichtshof hatte über die Frage zu entscheiden, ob § 42 II ZPO erfüllt ist, wenn ein AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 4/2022 193

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