BRAK-Mitteilungen 4/2022

Richter in einem Verfahren zwar nicht selbst Partei ist (dann Ausschluss von der Ausübung des Richteramtes nach § 41 Nr. 1 ZPO), aber einen Rechtsstreit zu entscheiden hat, in dem er in wesentlichen Teilen den gleichen Sachverhalt und die gleichen Rechtsfragen zu beurteilen hat, wie in eigener Sache, im entschiedenen Fall darüber, ob Käufern von Fahrzeugen des VolkswagenKonzerns, die mit dem Dieselmotor EA 189 nebst Abschalteinrichtung ausgestattet sind, Schadensersatzansprüche zustehen. Der BGH hat die Voraussetzungen des § 42 II ZPO bejaht. Vom Standpunkt des beklagten Automobilherstellers aus können bei vernünftiger Betrachtung Zweifel an der Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Richters aufkommen. Es genügt bereits der „böse Schein“; die tatsächliche Einstellung des Richters ist insoweit nicht ausschlaggebend. 2. VERFAHRENSFRAGEN a) ERMESSEN DES TATRICHTERS BEI GEHEIMHALTUNGSANORDNUNG Der Bundesgerichtshof hat sich in mehreren Rechtsbeschwerden gegen eine Geheimhaltungsverpflichtung mit dem Inhalt und den Grenzen des richterlichen Ermessens im Rahmen des § 174 III GVG auseinandergesetzt.6 6 BGH, Beschl. v. 10.11.2021 – IV ZB 27/20, BeckRS 2021, 36374; BGH, Beschl. v. 10.11.2021 – IV ZB 28/20, BeckRS 2021, 36394; BGH, Beschl. v. 10.11.2021 – IV ZB 29/20, BeckRS 2021, 36395; BGH, Beschl. v. 10.11.2021 – IV ZB 40/20. Wird die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Staatssicherheit oder aus den in §§ 171b, 172 Nr. 2 und 3 GVG bezeichneten Gründen ausgeschlossen, so kann das Gericht die im Gerichtssaal anwesenden Personen zur Geheimhaltung verpflichten. Die Verpflichtung erstreckt sich auf Tatsachen, die mündlich bekundet werden oder von den Schriftstücken in Kenntnis gebracht werden. § 174 III GVG eröffnet Ermessen, unter Berücksichtigung der Gesamtumstände über den erforderlichen Umfang der Geheimhaltungsverpflichtung zu entscheiden, wobei der Beschluss gem. § 174 III 3 GVG beschwerdefähig ist. Das Beschwerdegericht überprüft nicht die Voraussetzungen des § 174 III GVG, sondern lediglich die pflichtgemäße Ermessensausübung auf etwaige Ermessensfehler. Die Geheimhaltungsverpflichtung umfasst nur solche Tatsachen, die dem zum Schweigen Verpflichteten nicht bereits vorher bekannt waren, weil die Geheimhaltungsanordnung sich nur auf den nichtöffentlichen Verfahrensabschnitt bezieht. Das Gericht ist nicht verpflichtet, von sich aus umfangreiche Ermittlungen dazu anzustellen, hinsichtlich welcher im Gerichtssaal anwesenden Person nur noch ein eingeschränktes oder gar kein Bedürfnis für die Geheimhaltungsverpflichtung mehr besteht, weil ihr alle oder einige der aus Sicht des Geheimnisträgers zu schützenden Tatsachen bereits bekannt sind. Entscheidend ist hierbei, ob zum Zeitpunkt der Beschlussfassung aus Sicht des Tatrichters damit zu rechnen war, dass demjenigen Tatsachen durch die Verhandlung oder durch ein das Verfahren betreffendes amtliches Schriftstück zur Kenntnis gelangen, dessen Verpflichtung zur Geheimhaltung in Rede steht. Ohne Relevanz ist es, ob bei anderen Kläger- oder Beklagtenvertretern möglicherweise Vorkenntnisse bestehen. § 174 III 1 GVG bezieht sich nur auf anwesende Personen. Allein das Überlassen der Unterlagen an die Sozietät der Prozessvertreter führt nicht ohne weiteres dazu, Kenntnisse der Partei bejahen zu können. b) KEINE VERHANDLUNG OHNE BILDÜBERTRAGUNG Verhandlungen im Wege der Videokonferenz sind zwar schon seit 2002 vom Gesetzgeber vorgesehen, haben aber erst im Zuge der Covid19-Pandemie an Bedeutung gewonnen. Die Verhandlung ist „zeitgleich in Bild und Ton” zu übertragen. Wird – etwa wegen technischer Störungen – nur der Ton übertragen, liegt ein Verstoß gegen den Mündlichkeitsgrundsatz, ggf. auch gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör vor. Ein Verstoß gegen § 128a ZPO kann nach Maßgabe von § 295 I ZPO geheilt werden.7 7 OLG Saarbrücken, Urt. v. 15.7.2021 – 4 U 48/20, BeckRS 2021, 29631. c) AUSSETZUNG WEGEN VORGREIFLICHKEIT IM URKUNDENPROZESS Der BGH hat entschieden, dass eine Aussetzung nach § 148 ZPO auch im Urkundenprozess in Betracht kommt.8 8 BGH, Beschl. v. 9.3.2021 – II ZB 16/20, NJW-RR 2021, 638. § 148 ZPO ermöglicht dem erkennenden Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, die zeitweise Aussetzung anzuordnen. Das Gericht hat insoweit ein Ermessen. Zweck der Aussetzung ist insbesondere die Vermeidung der Gefahr divergierender Entscheidungen. Daher ist der Rechtsstreit in der Regel auszusetzen. Besonderes gilt allerdings im Urkundenprozess. Diese Verfahrensart dient dazu, dem Kläger schnell einen vollstreckbaren Titel zu verschaffen. Daher ist eine Aussetzung im Urkundenprozess nur unter besonderen Umständen angemessen. Ansonsten könnte dessen Zweck leicht vereitelt werden. 3. AUSLANDSBEZUG UND SCHIEDSVERFAHREN a) AUSLANDSZUSTELLUNG IM PARTEIBETRIEB Die EuZVO ermöglicht grenzüberschreitende Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die Zustellungsarten nach der EuZVO gleichrangig.9 9 EuGH, Urt. v. 9.2.2006 – C-473/04, EuZW 2006, 186. Dies bedeutet jedoch keine Egalisierung des Anwendungsbereichs der EuZVO.10 10 OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 3.11.2021 – 6 W 95/21, NJW-RR 2022, 211. Einer Partei, die eine Zustellung im Parteibetrieb zu besorgen hat, steht BRAK-MITTEILUNGEN 4/2022 AUFSÄTZE 194

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