kuments.11 11 Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“, Diskussionspapier. Das Papier griff insb. die Idee vonGreger, NJW 2019, 3429 ff. auf. Vgl. hierzu Wolf, in FS 190 Jahre Rechtsanwalts- und Notarverein Hannover, 2021, 205 ff. Nunmehr haben sich die OLG-Präsidentinnen und -Präsidenten mit der Idee befasst, KI und Algorithmen zur Entlastung der Justiz heranzuziehen. Das Papier zerfällt in zwei Teile. In einem ersten theoretischen Teil wird der Frage nachgegangen, in welchem Umfang die den Richtern nach Art. 92 GG anvertraute rechtsprechende Gewalt durch eine KI substituiert oder unterstützt werden kann. Im zweiten Teil des Papiers werden dann 19 Projekte in der Justiz vorgestellt, welche für einen KI-Ansatz der Justiz stehen sollen. Einen Schwerpunkt der Projekte bildet dabei die KI-unterstützte Erfassung der Prozessakte. II. RECHTSFINDUNG ALS DIALOGISCHER PROZESS ODER DIE GRENZEN DER BERECHENBARKEIT In dem Grundsatzteil des Grundlagenpapiers stützt sich die Arbeitsgruppe vor allem auf die Arbeit von Nink, Justiz und Algorithmen.12 12 Nink, Justiz und Algorithmen, 2021. Neben Art. 92 GG ist zentrales Argument dabei der Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 103 I GG und Art. 1 GG.13 13 Grundlagenpapier, S. 13 ff. und 16 hierzu Nink, Justiz und Algorithmen, 305 und 357. So wie Nink adressiert das Grundlagenpapier die Vorgaben des Grundgesetzes an das Verfahren lediglich als normative Vorgaben. Eine vollständige Substituierung der richterlichen Entscheidungsfindung durch eine KI ist aufgrund der normativen Vorgaben nicht möglich. Dem ist sicherlich zuzustimmen. Aber reicht dies, um der Versuchung zu widerstehen, statt eines gerichtlichen Verfahrens eine KI den Prozess entscheiden zu lassen? Oder muss man nicht auf die diesen normativen Annahmen zugrundeliegenden Wertvorstellungen zurückgreifen? Eines der (unrealistischen) Leitbilder des gerichtlichen Verfahrens ist, dass die Gerichte stets die einzig richtige Entscheidung finden.14 14 Voßkuhle, in Oswald, Das Grundgesetz, 2022, 337 undders., in FS für Paul Kirchhof, Bd. I, § 86 Rn. 4. Diese Vorstellung der einen richtigen Entscheidung ist tief verwurzelt. Für unsere Zeit hat sie am deutlichsten Roland Dworkin mit seiner Kunstfigur des Herkules formuliert.15 15 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1990. Herkules, ein von Dworkin erfundener Superrichter, der mit größtmöglichem Wissen, Zeit und Fähigkeiten ausgestattet ist, sei mit Hilfe eines Regel-Prinzipien-Modells auch in schwierigen Fällen in der Lage, die eine richtige Entscheidung zu finden. Aber auch der Ausspruch von Montesquieu, dass der Richter nur der Mund des Gesetzes sei („la bouche, qui prononce les paroles de la loi“), war für die Idee prägend, dass es eine richtige Entscheidung gebe.16 16 Wolf/Künnen, FS für Vorwerk, 2019, 365, 366. Die Idee, es gebe eine richtige Entscheidung, ist für den Einsatz der KI zur Fallentscheidung anschlussfähig. Algorithmen sind deterministisch.17 17 Kment/Borchert, Künstliche Intelligenz und Algorithmen in der Rechtsanwendung, 2022, Kap. 2 Rn. 13. Deckt der Richter in seinem Urteil unabhängig vom Prozess lediglich das in der materiellen Privatrechtsordnung bereits eindeutig Festgeschriebene auf, kommt dem Prozessrecht keine eigenständige Bedeutung zu.18 18 Wolf/Knauer, in FS für Scharf, 2008, 329, 333. Rechtlichem Gehör oder, anders ausgedrückt, Rechtsgesprächen mit den Verfahrensbeteiligten und dogmatischen Lösungsvorschlägen der Rechtswissenschaften käme bei einem solch deterministischen Bild der richterlichen Entscheidungsfindung keine für die Entscheidungsfindung wesentliche Rolle mehr zu.19 19 Zur Rechtsfindung als Rechtsgespräch Voßkuhle, in FS für Paul Kirchhof, Bd. I, § 86 Rn. 9. Rechtliches Gehör wird zu einem Teil der zeremoniellen Arbeit, welche der Prozessverlierer freiwillig leistet, um sich damit selbst zu isolieren.20 20 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1983, 157. Wem rechtliches Gehör gewährt wurde, kann nicht mehr Solidarität für sich wegen einer gegen ihn gerichteten (vermeintlich) unrichtigen Entscheidung wirksam einfordern. Rechtliches Gehör ist aber für die Rechtsfindung vor allem deshalb entscheidend, weil diese den Dialog einfordert. Gesetze werden in keinerlei Sinn, wie Christensen schreibt, nur so angewendet. Sie sind immer erst in die entscheidende Norm für den Fall umzuwandeln. Im Prozess versuchen die Parteien, das Gesetz für ihre jeweiligen Interessen einzunehmen, den Begriffen des Gesetzes eine entsprechend ihren Interessen strategisch „richtige“ semantische Bedeutung zuzuschreiben. Es findet daher ein Kampf ums Recht im Raum der Sprache statt.21 21 Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung, in Lerch, Die Sprache des Rechts, Bd. 2, 2005, S. I, 77, 81. Die semantische Wortbedeutung, die der Gegner verwendet, soll diskreditiert werden und die eigene soll sich im Kampf ums Recht behaupten. In diesem Sinne liegt die wichtige Bedeutung des rechtlichen Gehörs darin, den Betroffenen Einfluss auf die Sprache der Urteilsentscheidung zu geben: „Wenn dagegen diese Sprache schon vorher feststeht, haben wir kein Recht vor uns, sondern nur sprachlich verbrämte Gewaltausübung.“22 22 Christensen, in Lerch, Die Sprache des Rechts, 91. Die Möglichkeit, aus abstrakten Regeln ein konkretes Urteil mit mathematischer (algorithmischer) Präzision abzuleiten, besteht nicht. Diese Erkenntnis hat bereits Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft herausgearbeitet.23 23 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 173. Ob ein konkreter Sachverhalt unter eine Regel subsumiert werden kann, müsste wiederum durch eine Regel erklärt werden. Und ob die Regel unter diese Regel subsumiert werden kann, wiederum durch eine Regel. Im Grunde führt dies ins Unendliche.24 24 Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 2017, 101. Im Kern entspricht dies der Halteproblematik bei Algorithmen.25 25 Allgemein zur Halteproblematik, Hoffmann, Theoretische Informatik, 3. Aufl., 2015, 231 ff. Die Lösung muss daher in einer reflektierenden UrteilsWOLF, DER ZAUBER DER KI AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 5/2022 241
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