BRAK-Mitteilungen 5/2022

Richter nicht mehr mit dem eigentlichen Schriftsatz, sondern nimmt an der Stelle des eigentlichen Schriftsatzes nur noch die Übereinstimmungssynopse zur Kenntnis, kann dies auch den Vorwurf der Befangenheit erzeugen. Wie das OLG Karlsruhe jüngst festgestellt hat, muss die Richterin bzw. der Richter zeitnah den gesamten Schriftsatz zur Kenntnis nehmen und sich nicht lediglich mit der Lektüre der Klagegliederung begnügen.34 34 OLG Karlsruhe, Beschl. v. 11.5.2022 – 9 W 24/22, NJW-RR 2022, 1001. Vergleichbares müsste wohl auch gelten, wenn lediglich die Synopse gelesen wird und dabei bestimmte Passagen nicht zur Kenntnis genommen werden. So einsichtig der Textvergleich auf den ersten Blick ist, in zweifacher Richtung bedürfte es der Absicherung. Zum einen muss der so kompilierte Schriftsatz, mit dem das Gericht arbeitet, den Parteien zur Verfügung gestellt werden. Nur so ist für die Parteien kontrollierbar, ob ihr Vortrag dem Gericht, so wie er verfasst war, auch tatsächlich zur Entscheidungsfindung vorgelegen hat. Zum zweiten ist dies auch deshalb erforderlich, um eine gedankliche Offenheit sicherzustellen. Die Erkenntnis der rechtlichen und tatsächlichen Wahrheit ist ein dynamischer Prozess. Der durch einen Textvergleich erreichten Entlastung der Gerichte steht die Gefahr einer Verengung des Meinungsspektrums gegenüber.35 35 Hierzu in Bezug auf das KapMuGVorwerk, in Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2007, § 1 Rn. 2. Dort, wo dem Gericht durch den Textvergleich die gleiche Argumentation veranschaulicht wird, besteht die Gefahr, dass selbst bei unterschiedlichen Spruchkörpern der Einzelfall nicht mehr jeweils neu durchdacht, sondern auf das Entscheidungsmuster zurückgegriffen wird. 3. RICHTERROBOTER UND PROZESSKOSTENHILFE Kritisch zu beurteilen ist auch die Frage, in welchem Umfang man KI die Entscheidung über die Prozesskostenhilfe überlassen kann. Im Gegensatz zu dem Grundlagenpapier36 36 Grundlagenpapier, 37. dürften die Kieler Reformvorschläge für einen besseren Zugang zur Arbeitsgerichtsbarkeit37 37 Digitalisierung nutzen! Kieler Reformvorschläge für einen besseren Zugang zur Arbeitsgerichtsbarkeit, 84. Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte am 24.5.2022 in Kiel, nachfolgend Kieler Reformvorschläge. deutlich zielführender sein. Zunächst überzeugt die Idee, über das Smartphone auf einfache Weise die Antragstellung zu ermöglichen und Dokumente einzureichen.38 38 S. 32 der Kieler Reformvorschläge. Auch spricht viel für die Trennung des Verfahrens in Überprüfung der formalen Voraussetzungen des Prozesskostenhilfeantrags und inhaltlich wertende Beurteilung, ob die Klage hinreichende Erfolgsaussicht hat und nicht mutwillig erscheint. Zwar sehen die Kieler Reformvorschläge hier auch die Möglichkeit eines KI-Einsatzes, beurteilen diesen jedoch zurückhaltender als das Grundlagenpapier. Urteilsvorhersagen durch KI (Legal Prediction) beruhen nicht auf einer nachvollziehbaren Bewertung der in der Klageschrift vorgetragenen Argumentation, sondern auf einer Mustererkennung. Die Muster haben dabei nichts mit einer juristischen Argumentation zu tun. Bislang haben sich alle Versuche, rechtliche Probleme mit Hilfe der formalen Logik zu entscheiden, als nicht zielführend erwiesen.39 39 Branding, Artif Intell Law 25 (2017) 5 f. Anders verhält es sich mit einem datenzentrierten Ansatz. Dabei werden die Gerichtsentscheidungen nach formalen nichtjuristischen Kriterien analysiert. Hierzu werden die Gerichtsentscheidungen dekonstruiert. Der dogmatische Begründungszusammenhang wird aufgelöst und bestimmte Urteilspassagen als N-Gramm erfasst. Unter einem N-Gramm versteht man entweder einzelne Buchstaben oder Wörter. Zur Urteilsvorhersage müssen die Daten aufbereitet werden, indem zunächst häufig vorkommende N-Gramme ohne charakteristischen Bezug, wie z.B. „das“ oder „die“, herausgefiltert werden. Mit den verbleibenden Daten sucht man sodann mit einer KI Muster zu erkennen und zu vergleichen. Diese Mustererkennung ist jedoch losgelöst von einer juristisch-dogmatischen Argumentation.40 40 Hierzu Gegendarstellung April, April – oder warum wir nicht Pythia befragen sollten, 2.4.2021, https://www.jura.uni-hannover.de/fileadmin/jura/Fakultaet/Profess uren/Prof._Dr._Wolf/Aktuelles/Dokumente/Gegendarstellung_Pythia.pdf. Wenn man zutreffend einen Richterroboter ablehnt, muss man diesen auch im Rahmen der Prozesskostenhilfeentscheidung ablehnen. Ansonsten wäre der Zugang zum Recht für denjenigen, der auf Prozesskostenhilfe angewiesen ist, deutlich schlechter gegenüber demjenigen, der ohne Prozesskostenhilfe klagen und so unmittelbar die richterliche Entscheidung herbeiführen kann. IV. DER PROZESS ALS DIALOG Richtig verstanden ist das gerichtliche Verfahren ein Dialog mit den Parteien. Die Digitalisierung bietet erhebliche Chancen, diesen Dialog zu verbessern und den Zugang zum Recht zu erleichtern.41 41 S. für den Strafprozess, Knauer, Digitalisierung des Strafprozesses im Kontext Rechtsstaat und Zugang zum Recht, BRAK-Mitt. 2022, 244 – in diesem Heft. Im Mittelpunkt der Bestrebung der Digitalisierung muss eine Verbesserung dieses Dialogs und damit des Rechtsstaats stehen. Eine auch für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte elektronisch durchsuchbare Gerichtsakte sowie die Möglichkeit, gerade in Parteiprozessen über das Smartphone bei Gericht Anträge zu stellen und Dokumente hochzuladen, gehören hier genauso dazu wie Videosprechstunden der Rechtsantragstellen bei den Amtsgerichten.42 42 S. 11 der Kieler Reformvorschläge. In seinen konkreten Vorschlägen liegt der Fokus des Grundlagenpapiers, wenngleich es viele sinnvolle Arbeitserleichterungen enthält, wie die elektronische Unterstützung der Richter bei der Strukturierung der Akte (e2A-Durchdringung), zu sehr auf der Entlastung der Justiz und zu wenig auf dem Ausbau eines – auch bei niedrigen Streitwerten – hochqualifizierten Rechtsstaats. Der Fokus auf Qualitätsverbesserung ist bei den Kieler Reformvorschlägen besser gelungen. AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 5/2022 243

RkJQdWJsaXNoZXIy ODUyNDI0