BRAK-Mitteilungen 5/2022

Für die weitere Reformdiskussion sind drei Dinge erforderlich: Erstens ist der Blickwinkel auf eine qualitative Verbesserung des Rechtsstaats auszurichten. Zweitens muss man sich darüber Rechenschaft ablegen, dass (gerichtliche) Rechtsfindung ein offener Prozess ist, der den Dialog voraussetzt. Ein Errechnen der richtigen Entscheidung durch einen Algorithmus ist theoretisch nicht möglich und verfassungsrechtlich nicht zulässig. Die Digitalisierung kann die Entscheidungsfindung unterstützen, aber nicht substituieren. Schließlich dürfen – drittens – Arbeitserleichterungen durch Digitalisierung nicht nur durch die Brille der Justiz gesehen werden, sondern immer auch durch die Brille der Rechtsanwaltschaft. Auch hier ist ein Dialog geboten, indem z.B. die Arbeitsgruppen jeweils auch mit Anwältinnen und Anwälten besetzt werden. DIGITALISIERUNG DES STRAFPROZESSES IM KONTEXT RECHTSSTAAT UND ZUGANG ZUM RECHT RECHTSANWALT PROF. DR. CHRISTOPH KNAUER* * Der Autor ist Rechtsanwalt in München und Honorarprofessor für Wirtschaftsstrafrecht und strafrechtliche Revision an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zudem ist er Vorsitzender des BRAK-Ausschusses Strafprozessrecht und Mitglied der BRAK-Arbeitsgemeinschaft Sicherung des Rechtsstaates sowie Mitglied des Beirates der BRAK-Mitteilungen. Die Corona-Pandemie hat sowohl die Bedeutung als auch bestehende Defizite der Digitalisierung deutlich werden lassen, gerade auch für eine funktionierende Rechtspflege. Auch außerhalb der Pandemie bedarf es einer gut ausgebauten digitalen Infrastruktur, um Verfahren effektiver auszugestalten und sie zu beschleunigen. Der Autor gibt einen Überblick über die aktuell diskutierten Möglichkeiten der Digitalisierung im Strafprozess, ihre rechtlichen Grenzen und die mit ihnen verbundenen Chancen und Risiken. Zugleich gibt er damit einen Ausblick auf die von BRAK und Institut für Prozess- und Anwaltsrecht der Universität Hannover gemeinsam organisierte Konferenz „Anwaltschaft im Blick der Wissenschaft“ am 11.11.2022, die sich diesem Thema widmet. I. BEDEUTUNG, CHANCEN UND RISIKEN DER DIGITALISIERUNG Ein zukunftssicherer Rechtsstaat ist ein digitaler Rechtsstaat.1 1 BRAK-Stn.-Nr. 84/2020, 9 – Positionspapier „Rechtsstaat 2.1 – krisensicher durch die Epidemie und in die Zukunft“. Die Bedeutung und Defizite der Digitalisierung wurden zuletzt in der Corona-Pandemie besonders deutlich; persönliche Kontakte waren so weit wie möglich einzuschränken. Dies führte nicht nur zu einer nahezu flächendeckenden Einführung von Homeoffice in Kanzleien und sogar in Ermittlungs- und Justizbehörden. Weil der Zugang zu Gerichtsgebäuden für die Öffentlichkeit weitgehend eingeschränkt wurde und den notwendigen Prozessbeteiligten die Teilnahme an Gerichtsverfahren nur unter Inkaufnahme einer Gefährdung der eigenen Gesundheit möglich war, war die digitale Ausstattung sowohl der Gerichte als auch der Beteiligten plötzlich entscheidend für eine funktionierende Rechtspflege. Auch außerhalb der Pandemie ist eine gut ausgebaute digitale Infrastruktur erforderlich, um Verfahren effektiver auszugestalten und somit zu beschleunigen.2 2 Vgl. BVerfGE 63, 45, 69, wonach der Beschleunigungsgrundsatz dem Rechtsstaatsprinzip entspringt. In Strafverfahren und vor allem in Haftsachen ist die Beschleunigung einerseits von überragender Bedeutung,3 3 Vgl. BVerfGE 57, 250, 279, wonach der Beschleunigungsgrundsatz eine die Wahrheit sichernde Funktion hat. andererseits stehen Öffentlichkeitsgrundsatz, Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsprinzip in einem Spannungsfeld zu einer vorschnellen Verlagerung zumindest der Hauptverhandlung ins Virtuelle. Über die Möglichkeiten, Chancen und Risiken der Digitalisierung im Strafprozess wird auf der am 11.11.2022 stattfindenden Konferenz der BRAK und des Instituts für Prozess- und Anwaltsrechts der Leibniz Universität Hannover zu dem Thema „Digitalisierung – Rekonstruktion – Zugang zur Verteidigung. Neue Herausforderungen für die Anwaltschaft“ referiert und diskutiert.4 4 Ausführliche Informationen dazu unter www.anwaltskonferenz.de; s. auch den Veranstaltungsflyer auf S. IX („Aktuelle Hinweise“; in diesem Heft). II. MÖGLICHKEITEN DER DIGITALISIERUNG IM STRAFVERFAHREN Eine digitale Verhandlung, zu der Prof. Dr. Anne Paschke mit Blick auf den Öffentlichkeitsgrundsatz referieren wird und wie sie für das Zivilverfahren teilweise möglich ist, ist in einem Strafprozess, in dem es um die Schuldfrage geht, schon wegen des Unmittelbarkeitsprinzips BRAK-MITTEILUNGEN 5/2022 AUFSÄTZE 244

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