zwar dasselbe Maß an Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit zustehen wie einem Anwaltssozius. Das bedeute jedoch nicht, dass jegliche Arten von Weisungen schlechthin unzulässig wären. Ebenso wie bei anderen beruflichen Zusammenschlüssen – etwa in einer Partnerschaft oder BGB-Gesellschaft – könne es in Rechtsanwaltsgesellschaften vorkommen, dass die Berufskollegen für die Berufsausübung Vorgaben machten. Dies sei beispielsweise gerechtfertigt, wenn es darum gehe, besonders haftungsgefährdendes und sonst berufswidriges Verhalten des Kollegen zu unterbinden (BT-Drs. 13/9820, 15 zu § 59f). In der Beschlussempfehlung und im Bericht des Rechtsausschusses, auf dessen Vorschlag die Einfügung des § 59f IV BRAO zurückgeht, wird insoweit ausgeführt, dass sich aus der Vorschrift des § 37 GmbHG ein Weisungsrecht der Gesellschafter gegenüber den Geschäftsführern ergebe. Die Vorschrift des § 59f IV BRAO solle deshalb klarstellen, dass auch die in der Anwaltsgesellschaft als Geschäftsführer oder in vergleichbarer Funktion tätigen Rechtsanwälte berufliche Unabhängigkeit genießen würden (BT-Drs. 13/ 11035, 24 f. zu § 59f IV). Auch die Gesetzesmaterialien heben demnach lediglich die fachliche Unabhängigkeit in Bezug auf die anwaltliche Tätigkeit auch von geschäftsführenden Rechtsanwälten hervor. [34] Die rechtswissenschaftliche Literatur schließt sich dieser Sichtweise überwiegend an (vgl. Brüggemann, in Weyland, BRAO, 10. Aufl. 2020, § 59f Rn. 4; Henssler, in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 59f Rn. 34). Angesichts der Allzuständigkeit der Gesellschafterversammlung und des legitimen Interesses des Kapitaleigners, die Geschäftspolitik zu bestimmen, müsse der Gesellschafterversammlung z.B. das Recht zustehen, über die Annahme bestimmter, etwa besonders haftungsträchtiger Mandate zu entscheiden (Kleine-Cosack, BRAO, 8. Aufl. 2020, § 59f Rn. 8). Andererseits wird zwar vertreten, dass Einzelweisungen der Gesellschafter gegenüber den Geschäftsführern unzulässig seien, während die anwaltlichen Gesellschafter die allgemeine Geschäftspolitik der Gesellschaft durchaus mitbestimmen dürften (Bormann/Strauß, in Gaier/ Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 3. Aufl. 2020, § 59f BRAO Rn. 10). Selbst aus dieser Einschätzung lässt sich aber eine umfassende Gestaltungsmacht und Weisungsfreiheit eines anwaltlichen Mit-Geschäftsführers einer Rechtsanwaltsgesellschaft, die mit der Rechtsmacht eines Mehrheits-Gesellschafter-Geschäftsführers vergleichbar wäre, nicht ableiten. § 59f IV BRAO versetzt keinen der Kl. in die Lage, über das unternehmerische Geschick der Beigeladenen insgesamt wie ein Unternehmensinhaber zu entscheiden. [35] Dieses Ergebnis wird durch einen Vergleich mit der ab 1.8.2022 geltenden künftigen Rechtslage bestätigt. Durch das Gesetz zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe v. 7.7. 2021 (BGBl. I 2363) ist der Zweite Abschnitt des Dritten Teils der BRAO mit Wirkung v. 1.8.2022 neu gefasst worden. Danach dürfen sich Rechtsanwälte zur gemeinschaftlichen Ausübung ihres Berufs zu Berufsausübungsgesellschaften verbinden; als Rechtsform solcher Berufsausübungsgesellschaften kommen Gesellschaften nach deutschem Recht einschließlich der Handelsgesellschaften, Europäische Gesellschaften und nach dem Recht eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum zulässige Gesellschaften in Betracht (§ 59b I 1 und II 1 BRAO n.F.). Nur Rechtsanwälte oder Angehörige eines der in § 59c I 1 BRAO n.F. genannten Berufe können Mitglieder des Geschäftsführungs- oder Aufsichtsorgans einer zugelassenen Berufsausübungsgesellschaft sein (§ 59j I 1 BRAO n.F.). Die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte, die dem Geschäftsführungsorgan der Berufsausübungsgesellschaften angehören oder in sonstiger Weise die Vertretung der Berufsausübungsgesellschaft wahrnehmen, bei der Ausübung ihres Rechtsanwaltsberufs ist zu gewährleisten und Einflussnahmen durch die Gesellschafter, insb. durch Weisungen oder vertragliche Bindungen, sind unzulässig (§ 59j VI BRAO n.F.). Dieses Unabhängigkeitsgebot entspricht nach den Gesetzesmaterialien der bisherigen Rechtslage. Danach müsse anwaltlichen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern zwar die gleiche Unabhängigkeit zukommen wie einer Anwaltssozia oder einem Anwaltssozius. Dies bedeute jedoch nicht, dass Vorgaben in allen Fällen unzulässig wären. Denkbar sei insb. eine Begrenzung besonders haftungsträchtiger Tätigkeiten (BT-Drs. 19/27670, 195 zu Abs. 6). Eine umfassende Weisungsfreiheit mit einer sich auf die gesamte Unternehmenstätigkeit erstreckenden Gestaltungsmacht anwaltlicher Geschäftsführer einer Berufsausübungsgesellschaft ist daher auch im künftigen Recht nicht vorgesehen. HINWEISE DER REDAKTION: Die von dieser Entscheidung betroffenen Rechtsanwälte haben gegen das Urteil des BSG Verfassungsbeschwerde eingelegt. Sie ist beim BVerfG anhängig unter dem Az: 1 BvR 1785/22. Über ihre Annahme ist bisher noch nicht entschieden worden. BRAK-MITTEILUNGEN 6/2022 BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG 362
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