BRAK-Mitteilungen 2/2023

Rechtsschutzes und dem aus Art. 20 III i.V.m. Art. 2 I GG folgenden Justizgewährleistungsanspruch. Die Anwaltspflicht zur elektronischen Einreichung begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Gesetzgeber habe den elektronischen Rechtsverkehr stufenweise eingeführt. Die anfängliche Belastung für die Nutzer sei hinzunehmen, um einen auf lange Jahre ausgelegten Standard zu erreichen. Von professionellen Einreichern könne verlangt werden, dass sie sich hinreichend um eine ordnungsgemäße Kommunikation mit dem Gericht kümmern. Es sei die Pflicht des Anwalts, für einen ordnungsgemäßen Zustand der aus seiner Kanzlei ausgehenden elektronischen Dokumente zu sorgen.7 7 BAG, Urt. v. 30.7.2020 – 2 AZR 43/20. Anwälte seien nicht nur nach § 31a VI BRAO verpflichtet, die für die Nutzung des beA erforderlichen technischen Einrichtungen vorzuhalten, vielmehr müssten sie sich auch die Kenntnisse zur Nutzung dieser technischen Einrichtungen aneignen,8 8 LAG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 19.9.2019 – 5 Ta 94/19; BVerfG, Beschl. v. 20.12.2017 – 1 BvR 2233/17. damit sie zugestellte Dokumente zur Kenntnis nehmen und Schriftsätze im Notfall auch ohne das Sekretariat fristwahrend versenden können. Ein Anwalt verletze seine Sorgfaltspflicht, wenn er sich mit dieser Anwendung nicht hinreichend auseinandersetze und blind auf das Funktionieren seines Sekretariats vertraue. In diesem Fall ging es (letztlich nur noch) um eine Kostenentscheidung. Wäre es z.B. um die Wahrung der Frist zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG gegangen, wären die Folgen ungleich schwerer wiegend gewesen. Eine Frage ist, wie sich der Berufshaftpflichtversicherer zu einem solchen Fall stellt und ob er hier den Einwand einer wissentlichen Pflichtverletzung erhebt. Bei einer Verletzung sog. Kardinalpflichten müsste der Versicherungsnehmer im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast sogar darlegen, warum keine wissentliche Pflichtverletzung vorliegt.9 9 BGH, NJW 2015, 947; Besprechung von Grams, BRAK-Mitt 2015, 75. (hg) WEITERLEITUNG VOM UNZUSTÄNDIGEN GERICHT Wird eine Rechtsmittelschrift beim unzuständigen Gericht eingereicht, kann innerhalb eines Zeitraums von sieben Arbeitstagen die Weiterleitung dieses Schriftsatzes per EGVP an das zuständige Berufungsgericht erwartet werden. (eigener Ls.) KG, Beschl. v. 30.1.2023 – 24 U 128/23 Das beA hat nichts daran geändert, dass immer mal wieder Rechtsmittelschriften an das unzuständige Gericht geschickt werden. Steht das zuständige Gericht im Rubrum des Schriftsatzes und trägt ein Mitarbeitender aufgrund eines Versehens den falschen Empfänger ein, kann bei entsprechender Büroorganisation und Anweisungen ein Anwaltsverschulden evtl. ausgeräumt werden. Steht das falsche Gericht bereits im Schriftsatz, muss der Prozessbevollmächtigte selbst dies merken und ausbessern, sonst ist es sein originäres Verschulden, das dem Mandanten zugerechnet wird. Das Verschulden ist aber dann nicht kausal für die Fristversäumung, wenn das unzuständige Gericht „im ordentlichen Geschäftsgang“ dafür hätte sorgen können, dass die Frist gewahrt bleibt. Voraussetzung ist, dass noch einige Zeit bis zum Fristablauf übrig ist; am selben Tag durfte man das nie erwarten. Herkömmlich erfolgte die Weiterleitung im Rahmen der normalen Gerichtspost. Im hier entschiedenen Fall erfolgte die Berufungseinlegung am 8.12.2022, die Frist lief am 16.12. ab. Erst am 19.12. leitete die Geschäftsstelle der zuständigen Kammer des LG Berlin den Schriftsatz per EGVP an das Kammergericht weiter. Das KG gewährte Wiedereinsetzung, da innerhalb dieses Zeitraums (sieben Arbeitstage) im vorliegenden Fall die Weiterleitung des Schriftsatzes an das zuständige Berufungsgericht erwartet werden konnte, zumal aufgrund des der Berufung beigefügten erstinstanzlichen Urteils ohne weiteres die irrtümliche Übersendung an das Landgericht ersichtlich war. So pragmatisch sehen es nicht alle Gerichte: Das OLG Bamberg10 10 OLG Bamberg, Beschl. v. 2.5.2022 – 2 UF 16/22, besprochen in BRAK-Mitt. 2022, 204. hatte Wiedereinsetzung abgelehnt, da „der elektronische Versand zwischen den Gerichten von beim falschen Gericht elektronisch eingereichten Schriftsätzen an das zuständige Gericht – jedenfalls bis 9.3.2022 – (noch) nicht zum gewöhnlichen Geschäftsgang“ gehörte. Sofern eine Weiterleitung über das EGVP erfolgt, tut sich zudem eine weitere Unsicherheit auf: Das OLG Bamberg stellt zwar fest, dass in Bezug auf einen mit einer qeS versehenen Schriftsatz die elektronische Weiterleitung über die EGVP-Postfächer vom unzuständigen an das zuständige Gericht zu einem insoweit formgerechten elektronischen Eingang bei letzterem führe, da der Schriftsatz dort mit qualifizierter elektronischer Signatur eingeht. Im Umkehrschluss funktioniert das aber offenbar nicht, wenn der Schriftsatz einfach signiert versendet wird. Auch wenn in diesem Fall eine Weiterleitung nicht zum form- und fristgerechten Eingang führt, dürfte sich das unzuständige Gericht jedoch nicht einfach aus der Verantwortung stehlen können: In diesem Fall sollte der Prozessbevollmächtigte vom Gericht zumindest erwarten dürfen, dass er innerhalb offener Frist gemäß § 139 ZPO auf den Fehler hingewiesen wird und dadurch eine nochmalige Einreichung des Schriftsatzes an das zuständige Gericht ermöglicht wird. (ju) FRISTEN MÜSSEN SCHNELLSTMÖGLICH ANHAND DER AKTEN GEPRÜFT WERDEN Übernimmt ein Prozessbevollmächtigter ein neues Mandat, bei dem er im Rahmen einer von ihm beantragten Akteneinsicht zum ersten Mal mit dem gesamten Prozessstoff sowie dem bisherigen Verlauf des Rechtsstreits in Berührung kommt, gehört es zu BRAK-MITTEILUNGEN 2/2023 AUFSÄTZE 90

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