BRAK-Mitteilungen 2/2023

den originären anwaltlichen Pflichten, die Akten unverzüglich selbst auf laufende Fristen zu überprüfen, um gegebenenfalls sofort reagieren zu können. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 17.10.2022 – 18 B 973/22, NWVBl. 2023, 87 Der Prozessbevollmächtigte hatte das Mandat erst im Beschwerdeverfahren übernommen. Die Beschwerdebegründungsfrist wurde versäumt, weil die Mitarbeiterin des Prozessbevollmächtigten im Wiedervorlagenkalender der Kanzlei nach Eingang der Gerichtsakte die Begründungsfrist versehentlich nicht für den 12.9., sondern für den 12.10.2022 und die Vorfrist nicht für den 5.9., sondern für den 5.10. eingetragen hatte. Das OVG macht deutlich, dass insbesondere bei einem neuen Mandat der Rechtsanwalt anhand der ihm vorgelegten Informationen – hier der Gerichtsakte – jedenfalls selbst eine Fristenprüfung vorzunehmen hat. Er darf sich in diesem Fall nicht darauf verlassen, dass die Mitarbeiterin die Frist zutreffend errechnet und notiert hat. Immer wenn ihm die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung zur Bearbeitung vorgelegt werden – und das ist ganz besonders bei der erstmaligen Bearbeitung der Fall – muss er den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen eigenverantwortlich prüfen. Hierzu sollte er eigentlich sogar bereits bei Mandatsannahme den Sachverhalt möglichst weitgehend aufklären, da Fristen auch sehr kurzfristig ablaufen können. (ju) PROZESSVOLLMACHT UND ZUSTELLUNG Zur Anzeige des Erlöschens der Prozessvollmacht des bisherigen Prozessbevollmächtigten vor Veranlassung der Urteilszustellung im Parteiprozess. BGH, Beschl. v. 8.11.2022 – VIII ZB 21/22, FamRZ 2023, 296 Entscheidungsverkündungstermin hinsichtlich des Urteils erster Instanz war hier am 21.10.2021. Zwei Tage zuvor erhielt das zuständige AG ein Telefax-Schreiben der Beklagten persönlich. Dieses Schreiben, datiert auf den 4.10., war an den Prozessbevollmächtigten adressiert. Hierauf war handschriftlich das gerichtliche Aktenzeichen vermerkt. Das Schreiben stellte inhaltlich die Mandatskündigung der Beklagten gegenüber ihrem Prozessbevollmächtigten dar; es lag am 20.10.2021 der zuständigen Geschäftsstelle vor. An diesem Tag ging beim AG außerdem ein Schriftsatz des Bevollmächtigten selbst ein, in dem dieser das Gericht über die Mandatskündigung informierte und darum bat, Zustellung ab sofort unmittelbar an die Beklagte vorzunehmen. Dieses Schreiben gelangte am 21.10. um 11.30 Uhr zur Geschäftsstelle; bereits eine halbe Stunde zuvor, also um 11.00 Uhr, war Entscheidungsverkündung. Am 22.10.2021 veranlasste die Geschäftsstelle der Bitte des Bevollmächtigten entsprechend die Zustellung des Urteils an die Beklagte persönlich, die dann auch am 23.10.2021 erfolgte. Die Beklagte ließ, nunmehr durch neue Anwälte vertreten, Berufung einlegen. Die Berufungsschrift ging allerdings erst am 24.11.2021 und damit zu spät beim Berufungsgericht ein. Die neuen Bevollmächtigten machten geltend, dass die Zustellung des Urteils an die Beklagte unter Verstoß gegen § 172 I 1 ZPO erfolgt sei und daher die Frist nicht habe auslösen können. Die Prozessvollmacht des seinerzeitigen Bevollmächtigten sei noch nicht erloschen gewesen, so dass die Zustellung des Urteils allein an diesen persönlich zu veranlassen gewesen wäre. Nach der Grundregel des § 172 I 1 ZPO wäre die Zustellung auch im Parteiprozess ausschließlich an den Prozessbevollmächtigten vorzunehmen, sofern nicht die Anzeige des Erlöschens der Vollmacht dem Gericht gegenüber erklärt wurde. Also legt der Senat zunächst das Schreiben der Beklagten aus, kommt aber im Ergebnis zu dem Schluss, dass dieses Schreiben als Erklärung darüber, dass die Vollmacht erloschen sei, nicht ausreichte. Das Schreiben war nicht an das Gericht adressiert, der Bezug zum Prozess ließ sich überhaupt nur durch das handschriftlich aufgebrachte gerichtliche Aktenzeichen herstellen. Dies reiche als verlässliche tatsächliche Grundlage für die Annahme, dass damit die Vollmacht beendet werde, nicht aus. Demgegenüber ergab sich dann nach Auslegung durch den Senat die ausreichende Eindeutigkeit aus dem Schriftsatz des Bevollmächtigten selbst, das die Geschäftsstelle zwar erst nach Entscheidungsverkündung erreichte, aber rechtzeitig vor dem maßgeblichen Zeitpunkt der Veranlassung der Zustellung. Der sogenannte „Ab-Vermerk“ datierte nämlich erst auf den 22.10. 2021. Das Gericht konnte also der Partei wirksam das Urteil zustellen, so dass die Berufung letzten Endes zu spät eingelegt war. Ohne dass dies noch entscheidungserheblich war, erläutert der BGH in dem Beschluss noch, dass die rechtzeitige Anzeige des Erlöschens der Vollmacht nicht dazu führt, dass die Zustellung keinesfalls mehr an den bisherigen Prozessbevollmächtigten hätte bewirkt werden können. Beide Zustellungsalternativen hätten also die Fristen in Lauf gesetzt. Es ging hier lediglich um die Frage, ob die Zustellung an die Partei selbst wirksam war. (bc) ZWEISTUFIGE POSTAUSGANGSKONTROLLE Ein Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten auf der ersten Stufe der Ausgangskontrolle fristgebundener Schriftsätze (hier: fehlerhafte Streichung der Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender) steht einer Wiedereinsetzung ausnahmsweise dann nicht entgegen, wenn im Rahmen der Büroorganisation durch eine allgemeine Arbeitsanweisung Vorsorge dafür getroffen wurde, dass auf der zweiten Stufe der Ausgangskontrolle bei normalem Verlauf der Dinge die Frist mit Sicherheit gewahrt worden wäre. Versagt diese Kontrolle, ist ein Rückgriff auf ein Anwaltsverschulden auf der ersten Stufe der Ausgangskontrolle ausgeschlossen. BGH, Beschl. v. 22.11.2022 – XI ZB13/22, FamRZ 2023, 306 JUNGK/CHAB/GRAMS, PFLICHTEN UND HAFTUNG DES ANWALTS – EINE RECHTSPRECHUNGSÜBERSICHT AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 2/2023 91

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