Unabhängigkeit, mit anderen Worten die Unabhängigkeit von seiner eigenen Person und kollidierenden persönlichen und nicht zuletzt auch von ökonomischen Interessenlagen. Sie ist Wesensbestandteil eines funktionsfähigen Rechtsstaates und sichert auch dessen Korruptionsfreiheit. Im Ergebnis bedeutet die anwaltliche Unabhängigkeit, frei von Einflussnahme zu sein, welche der Stellung des Rechtsanwalts für eine funktionsfähige Rechtspflege zuwiderlaufen würde. Besonders grundlegend ist die Sicherung der Unabhängigkeit für das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant. Mandanten müssen sich darauf verlassen können, dass ihr Rechtsanwalt bzw. die von ihnen gewählte Berufsausübungsgesellschaft ihre Interessen vorbehaltlos und ohne eigene Interessenkonflikte vertritt. Die Unabhängigkeit stellt sicher, dass der Rechtsanwalt unvoreingenommen und ausschließlich im Interesse seines Mandanten handelt. Die Bedeutung der Mandantenunabhängigkeit hat der EuGH nicht nur in ständiger Rechtsprechung hervorgehoben,16 16 Vgl. dazu auch EuGH, Beschl. v. 9.11.2011 – T-243/11 – GlaxoGroup/HABM-Farmodi´etica; EuGH, Urt. v. 2.12.2010 – C-225/09 Rn. 59 ff. – Jakubowska/Maneggia. sondern spiegelt sie sich bereits in der Satzung des Gerichtshofs wider, in der das Auftreten vor dem EuGH Syndikusrechtsanwälten aufgrund fehlender Unabhängigkeit von ihrem Arbeitgeber und Mandanten nicht gestattet ist.17 17 EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-422/11, C-423/11 – Prezes Urz˛edu Komunikacji Elektronicznej/Kommission; EuGH, Beschl. v. 30.5.2018 – T-664/16 Rn. 54 ff. – Erdmann u. Rossi; EuGH, Beschl. v. 5.9.2013 – C-573/1 – Client Earth/Rat. Der Schutz der dem Rechtsanwalt zugesprochenen Unabhängigkeit in seiner Rolle als Organ der Rechtspflege ist Sinn, Zweck und Ziel des Regelungsgefüges des § 59e BRAO a.F. Die Mitgliedstaaten sind befugt, im Hinblick auf die Gewährleistung einer funktionsfähigen Rechtspflege und der dafür essentiellen Sicherung der Qualität der Rechtsberatung und anwaltlicher Unabhängigkeit die Maßnahmen zu treffen, die geeignet sind, eine Gefahr der Beeinträchtigung dieser Unabhängigkeit zu beseitigen oder zu verringern, da eine derartige Beeinträchtigung geeignet wäre, sich auf das Niveau der Sicherheit und der Qualität der Rechtsberatung und damit auf die Qualität des Zugangs zum Recht für die Bevölkerung auszuwirken. Verhältnismäßiger Gebrauch vom Beurteilungsspielraum Bei der Prüfung, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bereich der Rechtspflege hinreichend beachtet wurde, ist zu berücksichtigen, dass jeder Mitgliedstaat eigenverantwortlich bestimmen kann, auf welchem Niveau er den Schutz der Rechtspflege gewährleisten will und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Da sich dieses Niveau von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden kann, ist den Mitgliedstaaten – jedenfalls bis zu einer vollständigen Harmonisierung – ein entsprechender Beurteilungsspielraum zuzuerkennen, so dass der Umstand, dass ein anderer Mitgliedstaat möglicherweise Vorschriften erlassen hat, die weniger streng sind als die in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen, nicht bedeutet, dass Letztere unverhältnismäßig wären. Indem der deutsche Gesetzgeber die Regelung getroffen hat, dass sich nur in der Entität tätige Rechtsanwälte und Angehörige anderer sozietätsfähigen Berufe an einer anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaft beteiligen dürfen, hat er von diesem Beurteilungsspielraum Gebrauch gemacht. In diesem Zusammenhang hat er sich für ein System entschieden, welches seines Erachtens nach ein besonders hohes Schutzniveau für die Rechtspflege, den Zugang zum Recht und insbesondere eine angemessene Rechtsberatung und -vertretung der Bevölkerung gewährleistet. a) ZU § 59E I 1 BRAO A.F. Nach § 59e I 1 BRAO a.F. können Gesellschafter einer Rechtsanwaltsgesellschaft nur die in § 59a BRAO a.F. genannten Berufe sein. Nach alter Rechtslage war der Adressatenkreis beruflicher Zusammenarbeit beschränkt auf Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Steuerbevollmächtigte und Mitglieder der Rechtsanwaltsoder Patentanwaltskammer, sowie der nach der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung18 18 Vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 12.1.2016 – 1 BvL 6/13, NJW 2016, 700 (702). inkludierten Ärzte und Apotheker. Die Regel des Ausschlusses von Nichtanwälten stellt eine Beschränkung dar, weil sie den Betrieb von Anwaltskanzleien der Anwaltschaft vorbehält und die übrigen Wirtschaftsteilnehmer von der Aufnahme dieser selbstständigen Tätigkeit im betreffenden Mitgliedstaat ausschließt. Dem liegt, wie bereits ausgeführt, ein zwingender Grund des Allgemeininteresses zugrunde. Ein Mitgliedstaat kann im Rahmen seines Wertungsspielraums der Ansicht sein, dass der (Mit-)Betrieb einer Anwaltskanzlei durch einen Nichtanwalt eine Gefahr für die Qualität der Rechtsdienstleistung sowie seiner Unabhängigkeit darstellen kann. Das Recht der Mitgliedstaaten die Fremdbesitzmöglichkeit für Personen, die nicht einem reglementierten Beruf angehören, auszuschließen, hat der EuGH bereits mehrfach als zulässig bestätigt.19 19 EuGH Urt. v. 19.5.2009 – C-171/07 – Apothekerkammer des Saarlandes u.a.; EuGH, Urt. v. 19.5.2009 – C 531/06 – Kommission/Italien. Auch das Sekundärrecht (Art. 11 Nr. 5 der Richtlinie 98/5/EG des europäischen Parlaments und des Rates zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufes in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde) sieht zum Schutze der Unabhängigkeit der Berufsträger Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit für Berufsausübungsgesellschaften vor, deren Kapital ganz oder teilweise von Nichtanwälten gehaltenwird. DAHNS/FLEGLER/NITSCHKE, FREMDBESITZVERBOT AUF DEM PRÜFSTAND AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 4/2023 207
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