BRAK-Mitteilungen 4/2023

merbeiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung für jeden Monat neu bestimmt und insgesamt einen geringeren Gesamtbetrag von 100.284,24 Euro errechnet. In die Strafzumessung im engeren Sinne hat das LG sodann eingestellt, dass der entstandene Gesamtschaden im Falle einer Verrechnung mit den von den freiwillig gesetzlich kranken- und pflegeversicherten Rechtsanwälten erbrachten Beiträgen nur in einer Höhe von 100.284,24 Euro anzusetzen sei (UA S. 288). II. Revision des Angeklagten [9] Der Schuldspruch des LG ist frei von Rechtsfehlern. Demgegenüber hält der Rechtsfolgenausspruch insgesamt rechtlicher Nachprüfung nicht stand, da das LG den Schuldumfang rechtsfehlerhaft bestimmt hat. [10] 1. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des LG tragen den Schuldspruch wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt gem. § 266a I und II Nr. 2 StGB. Das LG hat zutreffend angenommen, dass der Angeklagte Arbeitgeber der zwölf Rechtsanwälte war und für diese der Sozialversicherungspflicht unterliegenden (abhängig) Beschäftigten Beiträge zur Sozialversicherung vorenthielt. [11] a) Einen autonomen Arbeitgeberbegriff enthält kein autonomer Arbeitgeberbegriff imStGB das StGB nicht. Ob eine Person Arbeitgeber ist, richtet sich nach dem Sozialversicherungsrecht, das weitgehend auf das Arbeitsrecht Bezug nimmt (vgl. BGH, Beschl. v. 24.6.2015 – 1 StR 76/15 BGHR StGB § 266a Arbeitgeber 5 Rn. 10 und v. 23.3.2022 – 1 StR 511/21, Rn. 15). Gemäß § 7 I 1 SGB IV ist Beschäftigung – als Gegenstück zum Begriff des Arbeitgebers – die nichtselbstständige Arbeit, insb. in einem Arbeitsverhältnis; Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (§ 7 I 2 SGB IV). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine solche Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist (vgl. nur BSG, Urt. v. 28.6.2022 – B 12 R 4/20 R Rn. 17; verfassungsrechtlich unbedenklich, vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 20.5.1996 – 1 BvR 21/96). Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann – namentlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, eine eigene Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet (statt vieler: BSG, Urt. v. 29.3.2022 – B 12 R 2/20 R, BSGE 134, 84 Rn. 31 [vorgesehen] und v. 14.3.2018 – B 12 KR 13/17 R, BSGE 125, 183 Rn. 16). Entscheidend für die Abgrenzung von unselbstständiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit sind – ausgehend vom Vertragsverhältnis der Beteiligten – die tatsächlichen Gegebenheiten der „gelebten Beziehung“, die einer wertenden Gesamtbetrachtung zu unterziehen sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschl. v. 24.9.2019 – 1 StR 346/18, BGHSt 64, 195 Rn. 24 m.w.N.). [12] Aus dem Berufsbild des Rechtsanwalts und den Regelungen der BRAO ergibt sich für diese Abgrenzung nichts wesentlich anderes. Zwar kann die Eigenart der Anwaltstätigkeit als einer Dienstleistung höherer Art mit einer sachlichen Weisungsfreiheit einerseits und einem weitgehend durch Sachzwänge bestimmten zeitlichen und örtlichen Arbeitsablauf es mit sich bringen, dass sich das Abgrenzungsmerkmal der äußeren Weisungsgebundenheit hinsichtlich Zeit, Ort und Dauer des Arbeitseinsatzes so reduzieren kann, dass es eine sichere Unterscheidung zwischen abhängiger und selbstständiger Ausübung nicht mehr erlaubt; auch kann die Eingliederung wegen der Eigenart der Berufsausübung eines Rechtsanwalts sowohl bei abhängiger Beschäftigung als auch bei freier Mitarbeit in erster Linie durch die Sachgegebenheiten bedingt sein, weil auch der freie Mitarbeiter sich der sachlichen und personellen Ausstattung der Kanzlei bedienen können muss (vgl. BSG, Urt. v. 14.5.1981 – 12 RK 11/80 Rn. 43; s.a. BSG, Urt. v. 28.6.2022 – B 12 R 4/20 R). Sofern allerdings im Einzelfall die Weisungsgebundenheit eines Rechtsanwalts deutlich über das sich aus Sachzwängen ergebende Maß hinausgeht, kann dies ein deutliches Zeichen sein, dass eine solche Tätigkeit als eine abhängige Beschäftigung zu qualifizieren ist. Entsprechendes gilt für die Eingliederung in die Kanzlei, falls diese über die durch Sachgegebenheiten bedingte hinausgeht oder losgelöst von diesen festzustellen sein sollte. [13] Maßgebend bleibt stets das Gesamtbild der ArGesamtbild der Arbeitsleistung beitsleistung (vgl. BSG, Urt. v. 4.6.2019 – B 12 R 11/18 R, BSGE 128, 191 Rn. 14 und v. 29.7.2015 – B 12 KR 23/13 R, BSGE 119, 216 Rn. 16; vgl. auch BGH, Beschl. v. 13.12.2018 – 5 StR 275/18 BGHR StGB § 266a Arbeitgeber 6 Rn. 25; v. 24.6.2015 – 1 StR 76/15 BGHR StGB § 266a Arbeitgeber 5 Rn. 10 und v. 4.9.2013 – 1 StR 94/13 BGHR StGB § 266a Arbeitgeber 4 Rn. 11; BAG, Urt. v. 27.6.2017 – 9 AZR 851/16 Rn. 17). Soweit die Kriterien der Weisungsgebundenheit und der Eingliederung im Einzelfall an Trennschärfe und Aussagekraft verlieren, weil die konkreten Umstände sowohl bei einer abhängigen Beschäftigung als auch einer selbstständigen Tätigkeit festzustellen sein können, muss im Rahmen der notwendigen Gesamtbetrachtung den übrigen Merkmalen mehr Gewicht beigemessen werden. In diesen Fällen ist vornehmlich auf das eigene Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung abzustellen. Insoweit ist vor allem entscheidend, ob die Tätigkeit mit einem – ggf. pauschalierten – Verlustrisiko belastet ist und deshalb einer Gewinnbeteiligung gleichkommt oder ob sie lediglich als Gegenleistung für SONSTIGES BRAK-MITTEILUNGEN 4/2023 BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG 272

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