AUFSÄTZE DER RÜCKGANG DER EINGANGSZAHLEN BEI DEN ZIVILGERICHTEN ERKENNTNISSE AUS EINEM FORSCHUNGSPROJEKT PROF. EM. DR. IUR. ARMIN HÖLAND* * Der Autor ist emeritierter Professor an der juristischen und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. I. EINLEITUNG Seit über 20 Jahren gehen die Zahlen der Klagen in Zivilprozesssachen (ohne Familiensachen) an den 638 Amtsgerichten und 115 Landgerichten in Deutschland zurück.1 1 Gerichtsstatistisch genauer: Bei den Amtsgerichten gehen die Eingangszahlen nach ihrem Höchststand von rund 1,8 Mio. im Jahr 1995 ab den Jahren 1996 und 1997 zurück. Bei den Landgerichten setzt die entsprechende Rückbildung in den Jahren 1997 und 1998 ein. Das ist eine auffallende Umkehr des die bundesdeutsche Ziviljustiz über mehrere Nachkriegsjahrzehnte hinweg prägenden Anstiegs der Klageeingangszahlen.2 2 Man betrachte nur die Statistik der „Geschäftsentwicklung in Zivilsachen“ für die Jahre 1971-1987 im Anhang der BT-Drs. 400/88 zur Begründung des Entwurfs des Rechtspflege-Vereinfachungsgesetzes v. 17.12.1990, BGBl. I, 2847. Auf S. 194 dieser Drucksache wird für die Amtsgerichte in Deutschland für den Zeitraum 1971 bis 1986 ein Zuwachs erstinstanzlicher Prozesse von fast 70 % nachgewiesen. Der Rückgang ist kräftig und hält an. Allein zwischen den Jahren 2005 bis 2019, dem Untersuchungszeitraum für das nachfolgend vorgestellte Forschungsprojekt, verringerte sich die Zahl der erstinstanzlich erhobenen Zivilklagen in beiden Instanzen um insgesamt 612.000 und damit um rund ein Drittel. Bei den Amtsgerichten war der Rückgang mit 36 % stärker, bei den Landgerichten mit 21 % schwächer. Die Entwicklung findet bundesweit statt, wirkt sich aber nach Bundesländern unterschiedlich aus. Stärker ist der Rückgang in den neuen Bundesländern einschließlich Berlin, auch wenn man in den ostdeutschen Flächenländern die geschrumpften Bevölkerungszahlen in Rechnung stellt.3 3 Forschungsbericht S. 30, Tab. 4. Die Covid-19-Pandemie hat an der Gesamtentwicklung nicht viel geändert. Auch in dem neuesten gerichtsstatistisch erfassten Jahr 2022 sind die Klagezahlen in beiden zivilgerichtlichen Eingangsinstanzen weiter zurückgegangen.4 4 Destatis, Statistischer Bericht „Zivilgerichte 2022“, 9.8.2023. Bei den Amtsgerichten beträgt der Rückgang 5,1 %, deutlich weniger als im Vorjahr; bei den Landgerichten 13,3 %, s. Tabellen 24231-01 und 24231-09. Der Befund ist eine Globalaussage. Er schließt gegenläufige Entwicklungen in bestimmten Streitgegenstandsbereichen nicht aus, z.B. bei Kaufsachen im Zusammenhang sog. „Dieselklagen“, bei Reisevertragssachen oder Verkehrsunfallsachen. Es verwundert daher nicht, dass manche Richterinnen und Richter nicht von Rückgängen, sondern von übervollen Dezernaten berichten. Individuelle Erfahrungen ändern aber nichts an der Gesamtentwicklung. Insgesamt hat die Mengenentwicklung ein in justiz- wie gesellschaftspolitischer Hinsicht beunruhigendes Ausmaß, das Fragen nach den Ursachen aufwirft. Die Grundfrage nach den Ursachen des Rückgangs lässt sich bei unbefangener Betrachtung in drei Fragen aufgliedern. Gibt es in Deutschland weniger oder „Nichts zu klagen?“5 5 So der Titel einer früheren Problemanalyse: Armin Höland/Caroline Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? Der Rückgang der Klageeingangszahlen in der Justiz. Mögliche Ursachen und Folgen, Baden-Baden 2016. Oder ist die Streitmenge in Wirtschaft und Gesellschaft gleich geblieben (oder sogar gewachsen), aber die davon betroffenen Unternehmen und Privatleute führen die Streitigkeiten auf anderen Wegen als dem gerichtlichen Rechtsweg zu einer Lösung? Oder ist die Streitmenge in Wirtschaft und Gesellschaft gleich geblieben (oder sogar gewachsen), aber die davon betroffenen Unternehmen und Privatleute entscheiden sich häufiger dagegen, Konflikte verfahrensförmig zu lösen? II. DAS FORSCHUNGSPROJEKT – EINE KURZE BESCHREIBUNG Entstanden sind die nachfolgenden empirischen Erkenntnisse in einem Forschungsprojekt, das in enger Zusammenarbeit von zwei Forschungsteams durchgeführt worden ist. Das in Berlin ansässige und von Dr. Stefan Ekert geleitete Forschungs- und Beratungsunternehmen InterVal, das im August 2020 den Zuschlag in dem vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz geführten Vergabeverfahren „Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten“ erhalten hatte, bildete für die Untersuchung zusammen mit Caroline Meller-Hannich,6 6 Prof. Dr. iur., Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozess- und Handelsrecht an der Juristischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU). Monika Nöhre7 7 Von 2002 bis 2015 Präsidentin des Kammergerichts, anschließend bis 2019 Schlichterin der Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft. und Armin Höland8 8 Prof. Dr. iur., Professor emeritus an der genannten Fakultät der MLU. sowie weiteren sozialund rechtswissenschaftlich ausgebildeten MitarbeiteHÖLAND, DER RÜCKGANG DER EINGANGSZAHLEN BEI DEN ZIVILGERICHTEN BRAK-MITTEILUNGEN 5/2023 AUFSÄTZE 276
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