BRAK-Mitteilungen 5/2023

lichen Rechtsschutzes zum Ausdruck bringen. Vier Faktoren ragen durch ihre Häufigkeit heraus. Der erste Gesichtspunkt betrifft die Qualität der richterlichen Arbeit. Sie wird in zahlreichen Stellungnahmen als im Zeitverlauf nachlassend wahrgenommen.35 35 S. 152 f. Als Beispiel sei zitiert: „Nach meinem Eindruck scheinen insbesondere jüngere Richter unwillig, sich in einen komplizierten Sachverhalt einzuarbeiten und noch weniger bereit, einen Sachverhalt nachvollziehbar zu bewerten. Erledigungsziffern sind offenbar wichtiger für das persönliche Fortkommen. Die eigentliche Aufgabe des Richters, einen Sachverhalt tatsächlich und rechtlich zu bewerten, treten demgegenüber in den Hintergrund.“ (keine Angabe zum Bundesland, Allgemeines Zivilrecht, Familien-/Erbrecht, Gesellschafts-/Wirtschaftsrecht, vertritt überwiegend Privatpersonen) Eine Erklärung findet die nachlassende Qualität aus anwaltlicher Sicht in der gewachsenen Diskrepanz zwischen anwaltlicher Spezialisierung und fehlender Kenntnistiefe auf der richterlichen Seite. „Die Spezialisierung der AnwältInnen, die Einführung der Fachanwaltschaften und die damit verbundene Fortbildungspflicht hat in meinem Arbeitsbereich, dem Erbrecht, dazu geführt, dass ein sehr hohes Maß an Fachkompetenz und Erfahrung bei der Anwaltschaft vorhanden ist. Dem stehen in erster Instanz RichterInnen gegenüber, die oft nicht einmal mit den Basics des Rechtsgebietes vertraut sind. Nicht an allen Gerichten gibt es spezialisierte Kammern. [...]“ (Rheinland-Pfalz, Familien- und Erbrecht, vertritt überwiegend Privatpersonen) Ein zweiter Kritikpunkt hat den gewachsenen Erledigungs- und Vergleichsdruck auf Seiten der Gerichte zum Gegenstand. Er drückt sich nach anwaltlicher Erfahrung darin aus, dass Richterinnen und Richter die Parteien verstärkt und oft gleich zu Beginn der mündlichen Verhandlung zu Vergleichen drängen.36 36 S. 153 f. „Es entsteht häufig der Eindruck – insbesondere auch beim Mandanten – dass Gerichte versuchen, Urteile mit allen Mitteln zu vermeiden. Das führt bei gerichtserfahrenen Mandanten zu einem Verlust des Vertrauens in die Justiz und zur Bereitschaft außergerichtlich schnellere Lösungen zu suchen.“ (Saarland, Allgemeines Zivilrecht, Baurecht, Familien-/Erbrecht, vertritt überwiegend Privatpersonen)37 37 S. 154. Der dritte justizinterne Faktor, den die befragten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als eine Ursache für die schwächere Nutzung gerichtlicher Verfahren angeben, besteht in der in personeller wie technologischer Hinsicht unzureichenden Ausstattung der Gerichte. Ersteres heißt: zu wenig Richter, Zweiteres heißt: zu wenig digitale Ausstattung und Kompetenz und damit zu wenige Angebote für Videoverhandlungen nach § 128a ZPO, ein Thema, das durch die Covid-19-Pandemie gewissermaßen über Nacht große Bedeutung erlangt hat.38 38 S. 155. „Fax im 21. Jahrhundert, schlechtes beA und Sätze wie: „Wir haben hier am Landgericht nur eine Kamera für Video-Termine“ sind eine Zumutung an die Rechtspflege. Auf allen Seiten!“ (Berlin, Verbraucherrecht, vertritt überwiegend Privatpersonen) Unter einem vierten Gesichtspunkt wird die Verfahrensdauer als eine wesentliche Ursache für eine gewisse Abwendung von ziviljustizieller Streitbehandlung angesehen. In die Wahrnehmung fließt auch das fehlende Verständnis der Mandantschaft für die, im Vergleich zu sonstigen Geschäfts- und Kommunikationsvorgängen in einer digitalisierten Gesellschaft ungewohnt lange Dauer gerichtlicher Verfahrensorganisation und Entscheidung ein.39 39 S. 157 ff. Auch hier soll ein Zitat aus den Freitextantworten beispielhaft die Wahrnehmung kennzeichnen: „Gerade gewerbliche Mandanten sind kompromissfähiger geworden und sind an einer schnellen Lösung interessiert. Die rasanten Änderungen im Wirtschaftsleben passen nicht zu den Gerichtslaufzeiten.“ (MecklenburgVorpommern, Allgemeines Zivilrecht, Gesellschafts-/ Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht, vertritt überwiegend kleine und mittlere Unternehmen) Zusammen mit anderen, hier nicht weiter ausgeführten Erfahrungen mit Hemmnissen und Unzulänglichkeiten des Ziviljustizbetriebs entsteht aus den mitgeteilten anwaltlichen Auskünften der Eindruck, dass die Zivilrechtspflege für eine gewachsene Zahl von Rechtskonflikten als staatliches Angebot zur Streitbehandlung an Attraktivität verloren hat. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass sich kritische Wahrnehmungen und Äußerungen auch in der umgekehrten Richtung aus Sicht der interviewten Richter im Hinblick auf Veränderungen in der anwaltlichen Verfahrenspraxis finden lassen. Sie sind ebenfalls im Forschungsbericht nachzulesen.40 40 S. 173 ff. Da sie allerdings weniger zur Frage nach den Ursachen des Klagerückgangs beitragen können, wollen wir an dieser Stelle nicht auf sie eingehen. VI. ZUSAMMENFASSUNG Nach Jahrzehnten des Aufwuchses gehen die zivilgerichtlichen Eingangszahlen in Deutschland seit dem Ende der 1990er Jahre zurück. Gegenläufige Eingangszahlen aus bestimmten Anlässen und in bestimmten Streitgegenstandsbereichen ändern an der Gesamtentwicklung nichts. Auch die Pandemie hat auf diese Entwicklung allem Anschein nach keinen nennenswerten Einfluss genommen. HÖLAND, DER RÜCKGANG DER EINGANGSZAHLEN BEI DEN ZIVILGERICHTEN BRAK-MITTEILUNGEN 5/2023 AUFSÄTZE 280

RkJQdWJsaXNoZXIy ODUyNDI0