dern auch die technischen Möglichkeiten exponentiell zugenommen haben. Trotz einiger punktueller Anpassungen wird die StPO den veränderten Rahmenbedingungen derzeit noch nicht annähernd gerecht.3 3 Knauer, BRAK-Mitt. 2022, 244. Es bestehen gesetzliche Unsicherheiten im Umgang mit Daten, die etwa die Akteneinsicht und die Datensicherheit und -vollständigkeit betreffen. Gleichzeitig bleiben Potenziale ungenutzt – nicht nur, aber gerade bei dem Einsatz von Audio- und Videotechnik. Zudem ist die Dauer erstinstanzlicher Strafverfahren vor den Landgerichten im vergangenen Jahr nach Daten des statistischen Bundesamtes auf einen neuen Höchstwert von durchschnittlich 8,2 Monaten gestiegen4 4 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3, 2021, 78. – wofür neben fehlendem Personal der Anstieg der Datenmengen als Grund angegeben wird.5 5 Rebehn, Neue Stellen, bessere Besoldung und mehr Tempo bei der Digitalisierung, DRiZ 2022, 286. Dies ist insb. im Hinblick auf das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Beschleunigungsgebot6 6 BGH, Urt. v. 24.9.1974 – 1 StR 365/74; BGHSt 26, 1, 4; BVerfG, Beschl. v. 6.6. 2001 – 2 BvR 828/01, NStZ 2001, 502 m.w.N. kritisch zu sehen. Es muss eine Strategie erarbeitet werden, die einen effektiven, aber auch verantwortungsbewussten Umgang mit technischen Möglichkeiten und Datenmengen sicherstellt, dabei aber auch einen effektiven Grundrechtsschutz garantiert. Dennoch ist Digitalisierung insb. im Strafverfahren dort mit Vorsicht zu begegnen, wo die Persönlichkeit und der persönliche Eindruck der Verfahrensbeteiligten regelmäßig sehr viel mehr Gewicht haben als etwa im Zivilprozess. Daher sind die Verfahrensgrundsätze des Strafprozesses auch bei Reformbemühungen zwingend zu beachten. Insbesondere die Grundsätze der Mündlichkeit, der Öffentlichkeit und der Unmittelbarkeit stehen mit der fortschreitenden Digitalisierung in einem Spannungsverhältnis.7 7 Knauer, BRAK-Mitt. 2022, 244. Es verbietet sich aufgrund des Unmittelbarkeitsgrundsatzes insb., eine strafrechtliche Hauptverhandlung rein digital durchzuführen.8 8 Knauer, BRAK-Mitt. 2022, 244; vgl. hierzu BRAK-Stn.-Nr. 56/2020, 5 – Positionspapier „Rechtsstaat 2.0 – stark & zukunftssicher. Nur ein transparenter Rechtsstaat ist ein starker Rechtsstaat“: „[..] das Gericht [muss im Strafverfahren] aufgrund seines persönlichen Eindrucks von Angeklagten, Zeugen und zentralen Beweismitteln in der Hauptverhandlung entscheiden [...].“ Auch darf eine Videoaufzeichnung nicht dazu führen, dass bei dauerhaftem Ausfall eines Mitglieds des Gerichts die Hauptverhandlung unter Benennung eines neuen Richters oder Schöffen fortgesetzt wird, welcher sich lediglich die Aufzeichnungen der vorangegangenen Sitzungstage ansieht.9 9 Vgl. Bartel, StV 2018, 678, 684; a.A. Wehowsky, StV 2018, 685, 688 ff. Die Digitalisierung des Strafverfahrens und eine entsprechende Änderung der StPO finden damit ihre Grenze in den verfassungs- und strafrechtlichen Verfahrensgrundsätzen. Sämtlichen technischen Möglichkeiten im Strafverfahren ist abseits der Frage ihrer rechtlichen Zulässigkeit gemein, dass ihre praktische Umsetzung im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz, das Gebot der Waffengleichheit und den Beschleunigungsgrundsatz nur bei der Verwendung möglichst effizienter und miteinander kompatibler Technologien und der Durchführung entsprechender Schulungen für sämtliche Nutzer verfahrenssicher erscheint. Um die Vorteile digitaler Technologien tatsächlich nutzbar zu machen, bedarf es einer leistungsfähigen, flächendeckenden digitalen Infrastruktur.10 10 BRAK-Stn.-Nr. 60/2021, 1 f. Zudem muss gewährleistet sein, dass alle Bürgerinnen und Bürger digitale Angebote der Justiz ITsicher und datenschutzkonform nutzen können. Gleichzeitig müssen digitale Lösungen auch unmittelbar durch die Anwaltschaft für ihre Mandanten nutzbar sein.11 11 BRAK-Stn.-Nr. 60/2021, 1 f. Die fortschreitende Digitalisierung führte bereits zu der Normierung der elektronischen Aktenführung im Strafverfahren; diese ist ab dem 1.1.2026 auch in der Strafjustiz obligatorisch. Im Folgenden werden damit einhergehende Herausforderungen dargelegt und konkrete an eine elektronische Aktenführung zu stellende Maßstäbe bestimmt. So muss insb. eine einheitliche und vollständige Aktenführung, aus welcher sich Ermittlungs- und Verfahrensablauf in nachvollziehbarer Weise ergeben, gewährleistet werden. Dazu gehört etwa die Möglichkeit der Nachverfolgung nachträglicher Änderungen und Entnahmen von Aktenbestandteilen. Um dem Beschleunigungsgebot gerecht werden zu können, ist es nach Auffassung der BRAK unerlässlich, die vorstehend aufgeführten Bedingungen, welche durchaus als Grundvoraussetzungen für eine effektive elektronische Aktenführung bezeichnet werden können, durch eine entsprechende technische Umsetzung zu erfüllen. Damit auch eine praktische Umsetzung der elektronischen Aktenführung sichergestellt werden kann, ist der Gesetzgeber in der Pflicht, an die elektronische Aktenführung angepasste Regelungen bezüglich der Aktenüberlassung an Mandanten sowie einen Straftatbestand für die Weitergabe von Aktenbestandteilen an Unbefugte zu schaffen (hierzu unter II.). Aufgrund der vorerst weiteren Verwendung von Akten in Papierform erscheint es ferner zwingend notwendig, eine Anpassung der Dokumentenpauschale der Nr. 7000 VV RVG vorzunehmen. Nach der derzeitigen Fassung ist lediglich das Fertigen von Kopien und Ausdrucken von Verfahrensakten (in Papierform) abrechnungsfähig. Die Anfertigung von Scans findet hierbei keinerlei Berücksichtigung. Insbesondere angesichts der fortschreitenden Digitalisierung erscheint eine solche Divergenz nicht weiter hinnehmbar, sodass hierzu nachfolgend eine entsprechende Neufassung der Nr. 7000 VV RVG vorgeschlagen wird (hierzu unter II.3.). Zudem tritt die BRAK für eine Anpassung des § 110 StPO an die technische Entwicklung ein. Diese ist mittlerweile nahezu fast ausschließlich von Kommunikation per E-Mail und Messengerdiensten und der DatenarchiAUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 1/2024 13
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