aa) DRINGENDES REGELUNGSBEDÜRFNIS § 110 StPO dient der Trennung von nicht beweiserheblichen und beweiserheblichen Papieren als eine der Beschlagnahme vorgelagerte und mildere34 34 Vgl. Doege, NStZ 2022, 466, 467. Ermittlungsmaßnahme. Die derzeit geltenden Gesetzesvorgaben35 35 Vgl. Begriff „Papier“ in § 110 StPO, der durch die Justizpraxis bereits ausgeweitet wurde. sind im Hinblick auf die fortschreitende Digitalisierung nicht mehr zeitgemäß, weil u.a. § 110 StPO die ihm zugedachte Filterfunktion allenfalls eingeschränkt zu erfüllen vermag.36 36 Vgl. Peters, NZWiSt 2017, 465, 469. Der Zweck des § 110 StPO, durch die Vermeidung einer umfassenden, andauernden Beschlagnahme den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren,37 37 Vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 12.4.2005 – 2 BvR 1027/02, NJW 2005, 1917, 1921. kollidiert mit der Realität des massiven Eingriffscharakters, den Maßnahmen nach § 110 StPO in der Praxis meist schon aufgrund der Menge der vermeintlich beweiserheblichen Daten etwa in Umfangsverfahren oftmals haben.38 38 Peters, NZWiSt 2017, 465, 469, vgl. auch Wackernagel/Graßie, NStZ 2021, 12. Es besteht daher ein dringendes Bedürfnis, die praktische Durchführung der Durchsicht gesetzlich zu regeln. Die mit einer vollständigen Spiegelung oder Mitnahme der Hardware verbundene Gefahr nicht nur für die Ermittlungsbehörden, sondern für alle Verfahrensbeteiligten, einerseits kaum bewältigbaren Datenmengen ausgesetzt zu sein, andererseits verfahrensfremde Zufallsfunde zu generieren, ist evident. Die als offene Ermittlungsmaßnahme ausgestaltete Durchsuchung wird durch die Durchsicht in den Räumen der Behörden faktisch mehr und mehr zu einer verdeckten Maßnahme. Dieser veränderten Ausgangslage muss im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit einem angepassten regulatorischen Rahmen Rechnung getragen werden. Insofern wird eine Ergänzung der Regelung in § 110 III 3 StPO n.F. durch Aufnahme von Soll-Vorgaben angeregt. Die vorläufige Sicherstellung soll durch Erstellung von Kopien des Datenstammes unter Ausschöpfung der Möglichkeiten zur Beschränkung39 39 Bspw. unter Ausschluss der Daten nichtbetroffener Personen, offenbar privilegierter Kommunikation i.S.d. § 97 StPO, irrelevanter Zeiträume. erfolgen. bb) VERFASSUNGSRECHTLICHE GRENZEN DER DURCHSICHT Im Hinblick auf die Suche nach elektronischen Beweismitteln sollten §§ 105, 110 StPO angelehnt an die Rechtsprechung des BVerfG,40 40 Vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 23.3.1994 – 2 BvR 396/94, NJW 1994, 2079. wonach im Einzelnen Art und denkbarer Inhalt der Beweismittel, deren Sicherstellung die Durchsuchung dient, im Durchsuchungsbeschluss genannt werden müssen, hinsichtlich der Sicherung von Daten ergänzt werden. Hierbei sollte der Durchsuchungsbeschluss so weit wie möglich Vorgaben zum Inhalt sowie zur Art und Weise der Suche nach den Daten enthalten (z.B. zur Suche mittels konkreter Suchbegriffe, zur Durchsicht nur bestimmter Bereiche des Speichermediums). Weiter ist zu regeln, dass eine Mitnahme von Papieren oder eine vorläufige Sicherung von Daten nur dann erfolgen soll, wenn eine Durchsicht und Aussonderung vor Ort unmöglich ist.41 41 Vom BVerfG und Gesetzgeber bereits mehrfach festgelegt, vgl. beispielhaft BVerfG, Beschl. v. 12.4.2005 – 2 BvR 1027/02, NJW 2005, 1917, 1921; Beschl. v. 16.6.2009 – 2 BvR 902/06, NJW 2009, 2431, 2436 Rn. 87; Beschl. v. 15.8.2014 – 2 BvR 969/14, NJW 2014, 3085, 3088 Rn. 44; BGH, Beschl. v. 5.8.2003 – StB 7/ 03, NStZ 2003, 670 Rn. 7; BT-Drs. 19/27654, 74, vgl. auch Cordes/Reichling, NStZ 2022, 712, 713. In § 110 StPO sollte zudem der Staatsanwaltschaft und ihren Ermittlungspersonen die Pflicht auferlegt werden, nach Möglichkeit die vorläufige Sicherstellung grundsätzlich auf Kopien der ggf. beweiserheblichen Papiere oder Datenbestände zu beschränken,42 42 Vgl. etwa LG Lübeck, Beschl. v. 3.2.2022 – 75 Gs 56/21, BeckRS 2022, 5388. um den Eingriff in das Eigentum des Betroffenen (Art. 14 I GG) erheblich abzumildern. In Bezug auf Datenbestände, die mithilfe eines IT-forensischen Datenauswertungssystems durchsucht werden sollen, muss eine vorläufige Sicherung auch dann auf eine Spiegelung beschränkt werden, wenn andernfalls eine Veränderung des Original-Datenbestands zu besorgen ist. Um sicherzustellen, dass Maßnahmen nach § 110 StPO im Hinblick auch auf das regelmäßig tangierte Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG)43 43 BVerfG, Beschl. v. 12.4.2005 – 2 BvR 1027/02, NJW 2005, 1917, 1918, 1922; Beschl. v. 16.6.2009 – 2 BvR 902/06, NJW 2009, 2431 Rn. 50. ohne Kenntnisnahme des Inhalts erfolgen, schreibt die vorgeschlagene Neufassung des § 110 StPO vor, dass Papiere und Daten, unter Ausschöpfung aller verfügbaren technischen Möglichkeiten, nur soweit gesichtet werden sollen, wie dies zur Feststellung ihrer voraussichtlichen Beweiserheblichkeit erforderlich ist. Angesichts der staatsanwaltschaftlichen Praxis wird diese gesetzliche Klarstellung, in Verbindung mit einer entsprechenden Begründungspflicht, für notwendig erachtet. Zur Effektivierung des Verfahrens kann es sich anbieten, die Verteidigung in geeigneten Fällen die Festlegung von Suchbegriffen einzubeziehen. cc) MEHRSTUFIGES VERFAHREN Um zugleich eine effektive Strafverfolgung zu ermöglichen und im Hinblick auf die fortschreitende Digitalisierung dem Kernbereichsschutz des von der Durchsicht Betroffenen in angemessener Weise Rechnung zu tragen, sieht die vorgeschlagene Neufassung des § 110 StPO ein mehrstufiges Verfahren (angelehnt an § 98a II, III StPO und § 100d StPO) vor.44 44 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.6.2009 – 2 BvR 902/06, NJW 2009, 2431, 2437 Rn. 91 f. Demnach ist bei Papieren oder Daten i.S.d. §§ 97, 148 StPO, die einem Beschlagnahmeverbot unterfallen, von einer Durchsicht abzusehen. Eine vorläufige Sicherstellung bleibt auch in Bezug auf beschlagnahmefreie Unterlagen möglich, soweit eine Aussonderung der geschützten Papiere oder Daten vor Ort nicht möglich ist. Den Strafverfolgungsbehörden soll weiterhin ermöglicht werden, eine Auswertung groBUNDESRECHTSANWALTSKAMMER, REFORMVORSCHLÄGE FÜR DAS STRAFRECHT UND DEN STRAFPROZESS AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 1/2024 19
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