BRAK-Mitteilungen 2/2024

BASIC STRUCTURE DOCTRINE UND ART. 79 III GG PROF. DR. MICHAEL EICHBERGER* * Der Autor ist Richter des BVerfG a.D. Der Beitrag beruht auf seinem Vortrag am 23.11.2023 bei dem gemeinsam von der BRAK, LAWASIA und Lexis Nexis veranstalteten Seminar zum Thema „Basic Structure Doctrine in Constitutional Law: Origins and Application“ im Vorfeld der LAWASIA-Jahreskonferenz in Bangalore. Der deutschen Anwaltschaft kommt nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf dem internationalen Parkett eine Schlüsselrolle bei der Mitgestaltung der rechtlichen Zusammenarbeit und dem interkulturellen Dialog auf dem Gebiet des Rechts zu. Die Internationale Abteilung der BRAK gestaltet diese Rolle gemeinsam mit der Anwaltschaft, nationalen und internationalen Partnerorganisationen sowie den Rechtsanwaltskammern in den jeweiligen Ländern aus. Ziel der Arbeit ist es u.a., einen Beitrag zum Aufbau und Erhalt rechtsstaatlicher Strukturen, der Einführung und Stärkung einer unabhängigen und selbstverwalteten Anwaltschaft sowie einen Austausch über Rechtsverständnisse zur gemeinsamen Fortentwicklung des Rechts zu leisten. In der Region Asien-Pazifik ist die BRAK seit nun schon über zehn Jahren v.a. in der überregionalen Organisation LAWASIA aktiv, der bedeutendsten und einflussreichsten internationale Anwaltsorganisation in der Region, bestehend aus Rechtsanwaltskammern und Anwaltsvereinigungen sowie Kanzleien, Richtern und Einzelanwälten. Ziel ist es, die Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung von Menschenrechten in der Region AsienPazifik zu fördern. Zum Alltagsgeschäft dieser internationalen Tätigkeit gehört der Rechtstransfer, u.a. im Bereich des Verfassungsrechts. So hat die im deutschen Grundgesetz verankerte „Ewigkeitsgarantie“ über das Südasien-Institut der Universität Heidelberg und ihren renommierten Rechtwissenschaftler Dieter Conrad in den 1970er Jahren Einzug in die Rechtslehre in Indien gefunden. Später wurde sie durch die Entscheidung Kesacananda Bhati vs. State of Kerala vom indischen Supreme Court in abgeänderter Form in die, vom Common Law geprägte, Rechtsordnung als „Basic Structure Doctrine“ eingeführt. In der weiteren Entwicklung machte sie allerdings nicht in Indien halt, sondern wurde über das Common Law-System in Bangladesch, Malaysia und weiteren Rechtsordnungen im asiatisch-pazifischen Raum eingeführt – oftmals nicht unumstritten. Der Autor befasst sich mit der Entstehung und Entwicklung der deutschen Ewigkeitsgarantie und dem Vergleich mit der indischen Basic Structure Doctrine. I. EINLEITUNG Die sog. Ewigkeitsgarantie im deutschen Grundgesetz hat jüngst von unerwarteter Seite Aktualität erlangt und Erklärungsbedarf geweckt. Den folgenden Ausführungen liegt ein im November 2023 auf der 36. LAWASIA Konferenz in Bangalore gehaltener Vortrag zugrunde, der vor dem Hintergrund der in Indien und einer ganzen Reihe pazifischer Anrainerstaaten praktizierten oder zumindest intensiv diskutierten Basic Structure Doctrine Entstehung und Inhalt der Ewigkeitsklausel in Art. 79 III Grundgesetz erläutern will.1 1 Der Beitrag konzentriert sich auf die Darstellung und Vermittlung der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes; er hat hingegen nicht zum Gegenstand Entstehung und Bedeutung der Basic Structure Doctrin (hierzu ausführlichMonika Polzin, TheBasic Structure Doctrine and its German and French Origins – A Tale about Migration, Integration and the Waters of Forgetfulness, Indian Law Review 2021, 45, 46 ff. (open source). Adressat des Vortrags und damit auch dieses Beitrags ist danach nicht in erster Linie der deutsche Jurist, dem vieles als selbstverständlich vorkommen mag, sondern der mit dem deutschen Verfassungsrecht nicht vertraute, einer fremden Rechtskultur angehörende ausländische Anwalt, Richter oder Rechtsgelehrte. Hierzu wird zunächst der einschlägige Verfassungstext in Art. 79 III GG vorgestellt. (II.1.). Sodann wird kurz der Blick auf die staatstheoretischen Grundlagen der Ewigkeitsgarantie gelenkt, die auch wichtig für die Entstehung der Basic Structure Doctrine waren, um darauf aufbauend die Genese des Art. 79 III GG in den verfassungsgebenden Gremien der Jahre 1948 und 1949 zu erläutern (II.2.). Danach wird der Inhalt von Art. 79 III GG vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BVerfG etwas näher beleuchtet (II. 3.) und dabei kurz auf einige wichtige Entscheidungen des BVerfG eingegangen (II.4.). In diesem Zusammenhang darf die im Verhältnis zur Europäischen Union judizierte Identitätslehre des BVerfG nicht unerwähnt bleiben (II.5.). Der Beitrag wird dann mit ein paar vergleichenden Überlegungen zu Ewigkeitsklausel und Basic Structure Doctrine schließen. II. DIE „EWIGKEITSGARANTIE“ IM GRUNDGESETZ 1. VERFASSUNGSTEXT Die deutsche Verfassung (das Grundgesetz) enthält seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 eine sog. Ewigkeitsklausel. Art. 79 I und II GG gestattet dem verfassungsändernden Gesetzgeber Änderungen einschließlich Ergänzungen und Streichungen im Grundgesetz nur auf der Grundlage eines Gesetzes, welches das Grundgesetz ausdrücklich ändert oder ergänzt. Außerdem bedarf ein solches Gesetz der Zustimmung von zwei Dritteln der gesetzlichen Zahl (also nicht nur der anwesenden) der Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates. Neben diesen formalen Hürden beschränkt Art. 79 III GG den verfassungsändernde Gesetzgeber in seinen Befugnissen ausdrücklich aber auch inhaltlich. AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 2/2024 77

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