Art. 79 III GG lautet: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Der in diesem Absatz in Bezug genommene Art. 1 GG erklärt in seinem Abs. 1 die Würde des Menschen für unantastbar, bekennt sich im Abs. 2 zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt und bindet schließlich in seinem Abs. 3 alle staatliche Gewalt an die nachfolgend aufgezählten Grundrechte. Der genannte Art. 20 GG garantiert die Bundesrepublik Deutschland als demokratischen und sozialen Bundesstaat, wesentliche Aspekte des Rechtsstaats und die Gewaltenteilung. 2. ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES ART. 79 III GG a) VERFASSUNGSTRADITION VOR 1949 Der deutschen und ebenso der europäischen Verfassungstradition vor 1949 im Übrigen sind explizite inhaltliche Beschränkungen des verfassungsändernden Gesetzgebers zur Sicherung des Bestands der Verfassung weitestgehend fremd.2 2 Ausnahmen bilden hier die Verfassungen Norwegens von 1814 (keine Änderung in den Grundsätzen) und Frankreichs von 1884 (Garantie der Republik) – s. dazu Dreier, in Dreier, GG, Art. 79 III, 3. Aufl. 2015, Rn. 1 f.; Bryde, in v. Münch, GG, 7. Aufl. 2021 Art. 79 Rn. 32; ders., Verfassungsentwicklung, 1982, 49 ff. b) WEIMARER REICHSVERFASSUNG Auch die Verfassung des Deutschen Reichs von 1919 (Weimarer Reichsverfassung) sah in Art. 763 3 Art. 76: Die Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden. Jedoch kommen Beschlüsse des Reichstags auf Abänderung der Verfassung nur zustande, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Auch Beschlüsse des Reichsrats auf Abänderung der Verfassung bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich. für Abänderungen der Verfassung durch den Gesetzgeber lediglich eine Zweidrittelmehrheit in den Gesetzgebungsorganen vor aber keine inhaltlichen Schranken. Unter den Staatsrechtslehrern der Weimarer Zeit war daher heftig umstritten, ob die Weimarer Reichsverfassung nicht einen impliziten Vorbehalt für eine änderungsfeste Garantie zumindest grundlegender Verfassungsprinzipien enthalte. Die große Mehrheit der Staatsrechtslehrer verneinte dies und sah den verfassungsändernden Gesetzgeber inhaltlich weitestgehend frei.4 4 S. dazu Dreier, in Dreier, GG, Art. 79 III, 3. Aufl. 2015, Rn. 2; Herdegen, inDürig/ Herzog/Scholz, GG, Art. 79 (Std. 2014) Rn. 64; Bryde, in v. Münch, GG, 7. Aufl. 2021 Art. 79 Rn. 32; jew. m.w.N. Gegen diese Auffassung hat sich unter wenigen anderen der in Deutschland bekannte und einflussreiche Staatsrechtslehrer Carl Schmitt gestellt, der die Aufgabe wesentlicher Staatsprinzipien einer neuen verfassungsgebenden Gewalt vorbehalten, dem verfassungsändernden Gesetzgeber aber verwehrt sah. Er sprach sich aber zugleich gegen die Aufzählung konkreter änderungsfester Materien in der Verfassung aus.5 5 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, 102 ff.; Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, 224 ff., 230 ff.; ders., in v. Münch, GG, 7. Aufl. 2021 Art. 79 Rn. 32; Dreier, in Dreier, GG Art. 79 III, 3. Aufl. 2015, Rn. 3; Monika Polzin, The Basic Structure Doctrine and its German and French Origins – A Tale about Migration, Integration and the Waters of Forgetfulness, Indian Law Review 2021, 45, 46 ff. (open source). Da Carl Schmitt wegen inhaltlicher Nähe zum Nationalsozialismus diskreditiert war, blieb sein Einfluss auf die deutsche Nachkriegsverfassung beschränkt. Von seinen staatsrechtstheoretischen, insoweit nicht von nationalsozialistischem Gedankengut „infizierten“ Ideen beeinflusst war allerdings Dietrich Conrad, der offenbar eine nicht ganz unerhebliche Rolle bei der Entwicklung der Basic Structure Doctrine in Indien spielte.6 6 Ausführlich dazu Monika Polzin, a.a.O. (Fn. 4), 54 ff. c) GRUNDGESETZ VON 1949 Abgesehen von einigen wenigen Struktursicherungsklauseln in neuen vorkonstitutionellen Verfassungen westdeutscher Länder7 7 Herdegen, in Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 79 (Std. 2014) Rn. 66. war es also das Grundgesetz von 1949, das erstmals die eingangs wiedergegebene ausdrückliche inhaltliche Garantie verfassungsänderungsfester Materien enthielt. Die Materialien zur Entstehung des Grundgesetzes belegen, dass die Aufnahme solcher expliziter inhaltlicher Schranken für den verfassungsändernden Gesetzgeber bei der Entwurfsformulierung im Grundsatz nie ernsthaft umstritten war. Es wurde vielmehr nur um die Ausgestaltung der inhaltlichen Details der Ewigkeitsklausel gerungen. Herdegen sieht in Art. 79 III GG zusammen mit der Garantie der Menschenwürde in Art. 1 GG „die markanteste Antwort des Verfassungsgebers auf das Trauma von Weimar“.8 8 So der bekannte GG-Kommentator Herdegen, in Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 79 (Std. 2014) Rn. 64. Das zielt auf den Erlass des im Ausgangspunkt wohl formal legalen, weil von Art. 76 WRV jedenfalls nicht explizit verwehrten „Ermächtigungsgesetzes“ vom März 1933, durch das die Gesetzgebungsgewalt faktisch vollständig auf den Reichspräsidenten übertragen wurde. Dieses Gesetz war ein wesentlicher Baustein für die Machtergreifung Hitlers.9 9 Hain, in v. Mangoldt/Klein/Starck, 7. Aufl. 2018, GG Art. 79 Rn. 29. Im Parlamentarischen Rat bestand daher praktisch von Anfang an Einigkeit darüber, freiheitliche, rechtsstaatliche und demokratische Kernelemente der Verfassungsordnung der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers zu entziehen.10 10 Dreier, in Dreier, GG, Art. 79 III, 3. Aufl. 2015, Rn. 5. Zwar war man sich im Parlamentarischen Rat dessen bewusst, dass mit der diskutierten Regelung zur Gewährleistung der Änderungsfestigkeit bestimmter Verfassungsgrundsätze eine „revolutionäre“ Neuregelung nicht verhindert werden, ihr aber – so wörtlich in den Protokollen des Parlamentarischen Rats – „die Maske der Legalität entrissen“ werden könne.11 11 Dehler, JöR 1 [1951], 586. 12 12 Dieses Art. 79 III GG tragende Regelungsziel greift das BVerfG in einer späteren Entscheidung aus dem Jahre 1970 ausdrücklich auf und benennt es als „Sinn“ der Vorschrift, „zu verhindern, dass die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsBRAK-MITTEILUNGEN 2/2024 AUFSÄTZE 78
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