BRAK-Mitteilungen 2/2024

vater Lebensgestaltung eindringen, als Verstoß gegen die Menschenwürde wertet.21 21 Zusammenfassend aus jüngerer Zeit BVerfG, Urt. v. 20.4.2015 – 1 BvR 966/09 u.a. – BKA-Gesetz, BVerfGE 141, 220 (276 ff. Rn. 119 ff.) und BVerfG, Urt. v. 19.5.2020 – 1 BvR 2835/17 – BND – Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, BVerfGE 154, 152 (262 ff. Rn. 199 ff.). In einer Reihe bedeutender Fälle war Art. 79 III GG aber auch unmittelbar Gegenstand der Entscheidung des BVerfG. So hielt das Gericht in einem Urteil vom 15.12. 1970 eine Ergänzung des grundrechtlich geschützten Fernmeldegeheimnisses in Art. 10 GG um einen Absatz, der zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung heimliche staatliche Abhörmaßnahmen erlaubte, gegen die auch kein gerichtlicher Rechtsschutz eröffnet war, für vereinbar mit der Ewigkeitsklausel.22 22 BVerfGE 30, 1 ‹ Fn. 12 8 (24 ff.); ähnlich zum sog. „Großen Lauschangriff“, BVerfGE 109, 279 ‹ Fn. 17 8 (310 ff.). Zur Begründung verwies es darauf, dass die Klausel eben nur die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze für unabänderbar erklärt, nicht aber jedes einzelne Grundrecht in vollem Umfang. Ähnlich argumentierte das BVerfG einem Urteil vom 23.4.1991.23 23 BVerfGE 84, 90 ‹ Fn. 14 8 (120 ff.); in der Sache ebenso BVerfG, Beschl. v. 18.4. 1996 – 1 BvR 1452/90 u.a., BVerfGE 94, 12 (34). Hier ging es um die im Zuge der deutschen Wiedervereinigung erfolgte Ergänzung des Grundgesetzes um einen Art. 143, wonach der gesetzliche Ausschluss von Rückerstattung unter sowjetischer Besatzung in der ehemaligen DDR vor 1949 entschädigungslos enteigneten Bodens für verfassungsgemäß erklärt wurde, obwohl für spätere entschädigungslose Enteignungen unter dem Regime der DDR Restitutionen gewährt wurden. In der Entscheidung betonte das BVerfG zwar, dass die Ewigkeitsklausel dem verfassungsändernden Gesetzgeber auch verbiete, „grundlegende Gerechtigkeitspostulate“ wie „den Grundsatz der Rechtsgleichheit und das Willkürverbot“ außer Acht zu lassen, ihn aber nicht daran hindere, „die positivrechtlichen Ausprägungen dieser Grundsätze aus sachgerechten Gründen zu modifizieren.“24 24 BVerfGE 84, 90 ‹ Fn. 14 8 (121). Eine Verletzung dieser Grundsätze sah das Gericht in der angegriffenen Vorschrift aber nicht, weil der verfassungsändernde Gesetzgeber davon ausgehen durfte, dass die damalige Sowjetunion ansonsten nicht der Wiedervereinigung zugestimmt hätte.25 25 BVerfGE 84, 90 ‹ Fn. 14 8 (126 f.); eingehender dazu BVerfGE 94, 12 ‹ Fn. 23 8 (35 ff.). In mehreren Entscheidungen aus dem Jahre 199626 26 BVerfGE 94, 49 ‹ Fn. 15 8 ; 94, 115 und 94, 166. schließlich hat das BVerfG auch im Hinblick auf künftige EU-Regelungen erfolgte Einschränkungen des im Grundgesetz in Art. 16 GG verankerten Grundrechts auf Asyl (sichere Drittstaaten, sichere Herkunftsstaaten) für vereinbar mit Art. 79 III GG befunden, vor allem weil das Grundrecht auf Asyl nicht Teil der unantastbaren Menschenwürde sei und dem verfassungsändernden Gesetzgeber bei der Ergänzung und Änderung von Grundrechten im Übrigen ein weiter Spielraum zustehe. 5. IDENTITÄTSPRÜFUNG BEI INTEGRATION IN DIE EUROPÄISCHE UNION Neuere Entwicklungen im Hinblick auf die Bindungen des verfassungsändernden Gesetzgebers in Deutschland ergaben und ergeben sich schließlich aus der zunehmend engen Einbindung der Mitgliedstaaten in die Staatengemeinschaft der Europäischen Union. Art. 23 I 3 GG in der Fassung der Neuregelung aus dem Jahre 1992 bestimmt, dass „für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, Art. 79 II und III entsprechend gilt.“ Das BVerfG hat in zahlreichen Entscheidungen der letzten Jahre, vor allem seit dem Urteil vom 30.6.2009 zum Lissabon-Vertrag,27 27 BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u.a. – Lissabon, BVerfGE 123, 267 (343 ff.). zum einen die Übertragung von nationalen Hoheitsrechten auf die Europäische Union daran gemessen, ob dabei die nationale Identität Deutschlands gewahrt ist, wie sie in Art. 79 III GG als änderungsfest und damit auch nicht auf fremde Hoheitsträger übertragbar umschrieben wird. Hierbei ging es häufig um das Budgetrecht, das dem nationalen Parlament als unverzichtbarer Ausfluss des Demokratieprinzips in allen wesentlichen Teilen vorbehalten bleiben muss.28 28 BVerfG, Urt. v. 5.5.2019 – 2 BvR 859/15 u.a., BVerfGE 154, 17 (87 Rn. 104) – PSPP Programm der EZB. Unerheblich für diese Form der Identitätskontrolle ist dabei, ob die im jeweiligen Einzelfall in Frage stehende Übertragung von Hoheitsrechten durch den einfachen oder den verfassungsändernden Gesetzgeber vorgenommen wird. Darüber hinaus prüft das Gericht in diesen Zusammenhängen zum anderen auch, ob Organe und Behörden der Europäischen Union sich im Rahmen der auf die Europäische Union übertragenen Hoheitsrechte halten oder ultra vires handeln. Auch aus einer solchen Kompetenzüberschreitung kann letztlich bei Untätigbleiben der zum Einschreiten verpflichteten deutschen Verfassungsorgane ein Identitätsverstoß folgen, wobei das BVerfG seine Kontrolle aber zurückhaltend und auf evidente Fälle beschränkt ausübt.29 29 Aus dieser Rechtsprechungslinie neben den in Fn. 27 und 28 genannten s. auch: BVerfG, Urt. v. 30.7.2019 – 2 BvR 1685/14 u.a., BVerfGE 151, 202 – Bankenunion S. 284 ff. Rn. 114 ff. und insb. S. 301 f. Rn. 154 ff. sowie BVerfG, Urt. v. 6.12.2022 – 2 BvR 547/21 u.a., BVerfGE 164, 193 – ERatG NGEU S. 275 ff. Rn. 113 ff., insb. S. 285 ff. Rn. 133 ff. zur Identitätskontrolle. Durch diese aus der Integration in die Europäische Union hervorgerufenen Fragen nach den Grenzen der verfassungsrechtlichen Identität bei der Übertragung von Hoheitsrechten hat die Ewigkeitsgarantie in den vergangenen 15 bis 20 Jahren eine ungeahnte Aktualität in Deutschland gewonnen. Bei der vom BVerfG aus Art. 23 I i.V.m. Art. 79 III GG entwickelten Identitätsdoktrin geht es allerdings nicht um die Grenzen des verfassungsändernden Gesetzgebers gegenüber innerstaatlichen Änderungsbestrebungen sondern um Schranken EICHBERGER, BASIC STRUCTURE DOCTRINE UND ART. 79 III GG BRAK-MITTEILUNGEN 2/2024 AUFSÄTZE 80

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