2. Fehlt es an den Voraussetzungen einer wirksamen Zustellung nach § 173 ZPO, gilt ein Schriftstück nach § 189 ZPO als zugestellt, wenn (i) das Schriftstück so in den Machtbereich des Adressaten gelangt, dass er es behalten kann und Gelegenheit zur Kenntnisnahme von dessen Inhalt hat; (ii) Zustellungswille gegeben ist, das heißt eine formgerechte Zustellung vom Gericht wenigstens angestrebt worden ist; sowie (iii) zumindest konkludent ein Empfangswille dokumentiert ist. Das Schriftstück gilt dann nach § 189 ZPO an dem Tag als zugestellt, an dem die vorbenannten Voraussetzungen erfüllt sind. 3. Der Zugang in den Machtbereich des Adressaten tritt im Falle der elektronischen Zustellung, sofern keine technischen Probleme bestehen, zuverlässig innerhalb weniger Minuten ein. 4. Ein Empfangswille – des bereits in den Machtbereich des Empfängers gelangten Schriftstücks – wird auch durch die Bitte um dessen Übersendung dokumentiert. LG Gießen, Urt. v. 1.12.2023 – 9 O 67/22 1. Bei der Zustellung eines Dokuments durch Empfangsbekenntnis (EB) ist Zustellungsdatum der Tag, an dem der Zustellungsadressat vom Zugang des übermittelten Schriftstücks persönlich Kenntnis erlangt. Zu den Personen, denen gegenüber die elektronische Zustellung gem. § 173 III ZPO erlaubt ist, zählen Rechtsanwälte. 2. Das Fehlen eines elektronischen oder schriftlichen EB hindert die Wirksamkeit der Zustellung nicht in jedem Fall. Bei fehlendem Nachweis gilt gem. § 189 ZPO der tatsächliche Zugang. 3. Hat das Büro des Rechtsanwalts dem Sozialgericht telefonisch die Übersendung des EB ausdrücklich zugesagt und ist der Zugang des Dokuments von dem Rechtsanwalt nicht bestritten worden, so gilt der Nachweis des Zugangs durch die elektronische Übersendung als geführt. LSG Hamburg, Urt. v. 14.12.2023 – L 4 SO 51/22 D Es war eine rechtspolitische Entscheidung, auch im elektronischen Rechtsverkehr das Empfangsbekenntnis maßgeblich für die Zustellung eines (fristauslösenden) Schriftstücks sein zu lassen, und nicht den Eingang im elektronischen Postfach des Empfängers. Nach § 175 III ZPO wird die Zustellung durch das mit Datum und Unterschrift des Adressaten versehene Empfangsbekenntnis nachgewiesen, das normalerweise als elektronisches Dokument (§ 130a ZPO) an das Gericht gesandt wird. Auch im analogen Zeitalter war das so. Eine auch erhebliche Verzögerung bzw. Datierung des Empfangsbekenntnisses führte grundsätzlich nicht zu einem (fingierten) früheren Fristbeginn, sondern war nur berufsrechtlich erheblich. Allerdings war auch damals schon der Gegenbeweis der tatsächlichen Kenntnisnahme möglich. Das auf dem Empfangsbekenntnis angegebene Datum ist beispielsweise dann irrelevant, wenn der Prozessbevollmächtigte im Rechtsmittelschriftsatz das Datum der tatsächlichen Zustellung benennt – damit widerlegt er die Richtigkeit des im EB genannten Datums, so der BayVGH in der genannten Entscheidung. Das gilt im elektronischen Rechtsverkehr gleichermaßen. Der verzögerten Abgabe des Empfangsbekenntnisses wird von der Rechtsprechung zuweilen mit einem anderen Dreh begegnet: Rechtstechnisch wird das über § 189 ZPO gelöst, der tatsächliche Zugang (der Eingang im beA des Prozessbevollmächtigten) ist danach maßgeblich, wenn sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen lässt oder das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist. Im Fall des LG Gießen hatte der Prozessbevollmächtigte am Tag des Eingangs des Versäumnisurteils im beA am 21.6. ein eEB abgegeben, jedoch erst im Schriftsatz vom 14.7. um Nachreichung des VU gebeten, da ihm dieses nicht vorliege. Es wurde ihm am 19.7. (nochmals) übersandt. Erst am 23.8.2023 gab er hierzu ein eEB ab. Das LG Gießen stellt dazu fest, dass es zwar (trotz des Verstoßes gegen § 14 BORA) vor dem 23.8. an der erforderlichen Dokumentation eines Empfangswillens fehle. Die Zustellung könne aber über § 189 ZPO fingiert werden: Dass das VU am 21.6. (evtl. wegen technischer Probleme) nicht eingegangen sei, habe der Prozessbevollmächtigte nicht nachgewiesen. Dass er das VU entgegennehmen wollte, habe er mit seinem Schriftsatz vom 14.7. zum Ausdruck gebracht und damit zumindest konkludenten Empfangswillen dokumentiert. Dieser Leitsatz 4. erscheint allerdings nun angesichts der expliziten Aussage, das Urteil liege ihm nicht vor, eine zweifelhafte Interpretation. Der fehlende Wille ist ein nicht gem. § 189 ZPO heilbarer Zustellungsmangel.13 13 So auch Hanseatisches OLG Bremen, Beschl. v. 13.6.2023 – 2 W 23/23. Meist ist es allerdings nicht unbedingt fehlender Wille, sondern einfach Schlampigkeit bei der Rücksendung des EB. Das LSG Hamburg lässt es zwar nicht ausreichen, dass der Datensatz mit dem Urteil nachgewiesenermaßen und ohne jeden Anhaltspunkt für technische Störungen auf dem Server des Rechtsanwalts eingegangen war. Das Sozialgericht hatte den Rechtsanwalt in der Folge jedoch zweimal schriftlich und ein weiteres Mal telefonisch an die Rücksendung des eEB erinnert. Dessen Büro hatte daraufhin im Telefonat die Übersendung des eEB ausdrücklich zugesagt. Auch hier kann man Zweifel haben, ob diese Zusage des Büros „über den Kopf des Rechtsanwalts hinweg“ die Zustellungsfiktion rechtfertigen kann. Dass es unbefriedigend ist, wenn Anwälte – offenbar mit dem Ziel der Verlängerung von Fristen und unter AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 2/2024 89
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