BRAK MITTEILUNGEN JUNI 2024 · AUSGABE 3/2024 55. JAHRGANG AKZENTE MEHR VIDEO WAGEN! Dr. Ulrich Wessels Ein erster Schritt ist gemacht. Das Gesetz zur Förderung der Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten schafft klarere Konturen für Videoverhandlungen an deutschen Gerichten. Ende Juli wurde es im Bundesgesetzblatt verkündet. Vorausgegangen ist ein zähes Ringen zwischen Bund und Ländern. Die Vorteile von Videoverhandlungen waren unbestritten, doch über die genauen Modalitäten herrschte Dissens. Der Bundesrat hatte dafür plädiert, Videoverhandlungen in das Ermessen des Gerichts zu stellen – Hintergrund ist auch, dass die Gerichte vielfach noch nicht ausreichend technisch ausgestattet sind. Die Bundesregierung lehnte das ab; die BRAK hatte gefordert, die Parteien entscheiden zu lassen. Nach über einem halben Jahr Verhandlungen einigten sich Bund und Länder Mitte Juni im Vermittlungsausschuss. Der dort erarbeitete Kompromissvorschlag, der nun Gesetz geworden ist, sieht vor, dass Videoverhandlungen nur möglich sind, wenn sich die Fälle dafür eignen und ausreichende Kapazitäten zur Verfügung stehen. Die Vorsitzenden Richterinnen bzw. Richter sollen die Videoverhandlung anordnen können; dagegen können die Parteien Einspruch erheben. Zudem können die Parteien selbst die Videoverhandlung beantragen. Der oder die Vorsitzende soll dem stattgeben, kann den Antrag allerdings auch mit einer kurzen Begründung – und ohne Anfechtungsmöglichkeit – zurückweisen. Die Änderungen hin zu mehr Dispositionsfreiheit der Parteien, die der Bundestag auf Vorschlag des Rechtsausschusses Mitte Dezember beschlossen hatte, wurden damit wieder zurückgedreht. Der Rechtsausschuss hatte das Antragsrecht der Parteien gestärkt und dem Gericht Begründungspflichten auferlegt. Nunmehr liegt die Entscheidung in den Händen des Gerichts, ebenso wie bei den Regelungen über die Beweisaufnahme und der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen. Auch hier kann das Gericht die Videovernehmung anordnen oder die Parteien sie beantragen. Ein Einspruchsrecht haben die Parteien nur bei Entscheidungen über Beweisaufnahmen; Entscheidungen über Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen sind dagegen unanfechtbar. Auch hier wurde die größere Dispositionsfreiheit der Parteien, die der Rechtsausschuss vorgesehen hatte, wieder teilweise zurückgedreht. Als in der Praxis höchste Hürde für Videoverhandlungen dürfte sich freilich erweisen, dass sie nur in geeigneten Fällen und bei hinreichenden (technischen) Kapazitäten möglich sind. Damit sollte den Bedenken der Länder Rechnung getragen werden. Wie oft künftig per Video verhandelt wird, hängt letztlich daran, wie großzügig oder eng die Gerichte die „Video-Eignung“ eines Falls auslegen – und am Willen der Länder, die technische Ausstattung der Gerichte auszubauen. Vollvirtuelle Verhandlungen, an denen alle an einem Verfahren beteiligten Personen remote teilnehmen, fanden aber zumindest über eine Experimentierklausel für die Länder Eingang ins Gesetz. Sie sollen danach nur möglich sein, wenn alle Mitglieder des Gerichts einverstanden, die Videoverhandlung angeordnet und von den Parteien kein Einspruch eingelegt wurde. Wie vollvirtuelle Verhandlungen mit Blick auf zentrale Verfahrensgrundsätze in Kollegialspruchkörpern praktisch umsetzbar sind, untersucht Denz in diesem Heft. Erweiterte Möglichkeiten für Videoverhandlungen sieht außerdem auch der aktuelle Entwurf eines Erprobungsgesetzes für Online-Verfahren vor. Ich setze auf die Länder, von diesen Erprobungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen und so die Digitalisierung im Zivilprozess voranzubringen. Genauer besehen waren Videoverhandlungen auch schon nach der bisherigen Regelung in § 128a ZPO möglich und hingen vom guten Willen der Gerichte ab. Mit dem neuen Gesetz dürfen Videoverhandlungen nun ein bisschen normaler werden und aus dem bisherigen Nischendasein heraustreten. Das können sie aber nur, wenn Richterinnen und Richter, Anwältinnen und Anwälte auch tatsächlich von dieser nun neu konturierten Option Gebrauch machen. Ihr Dr. Ulrich Wessels AKZENTE BRAK-MITTEILUNGEN 3/2024 121
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