Um eine Präsenzverhandlung adäquat widerzuspiegeln, muss bei der Übertragung auch sichtbar sein, welches Mitglied des Spruchkörpers gerade redet und wie dabei dessen Gestik und Mimik ist.27 27 BFH, Beschl. v. 3.6.2023 – V B 13/22 Rn. 19. Die Möglichkeit zur Wahrnehmung bezog der BFH auch auf die nonverbale Kommunikation zwischen der Richterbank und den anderen Verfahrensbeteiligten, auch wenn diese aufgrund der Sitzplatzanordnung im Gerichtssaal sonst nur aus dem Augenwinkel wahrnehmbar sind.28 28 BFH, Beschl. v. 18.8.2023 – IX B 104/22 Rn. 10. Zieht man die Kernaussagen der Entscheidungen zusammen, ergibt sich daraus, dass die Wahrnehmungsmöglichkeit sich grundsätzlich auf alle verbalen und nonverbalen Interaktionen bezieht, die auch in der Präsenzverhandlung von den Parteien wahrgenommen werden können. Andernfalls liegt nach dem BFH jedenfalls ein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör vor.29 29 BFH, Beschl. v. 18.8.2023 – IX B 104/22 Rn. 5. Ähnlich verhielt sich zu den Anforderungen an die Wahrnehmbarkeit auch Anfang 2024 das BVerfG. Wenn die Verfahrensbeteiligten die einzelnen Richterinnen und Richter aufgrund der Kameraeinstellung und fehlender Zoom-Funktion nicht wahrnehmen können und daher eine fehlende Überprüfungsmöglichkeit der Unvoreingenommenheit besteht, verletzt das zwar nicht das verfassungsmäßige Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 I 2 GG, kann aber ggf. das Recht auf ein faires Verfahren verletzen.30 30 BVerfG, Beschl. v. 15.1.2024 – 1 BvR 1615/23. Bei einer Kameraeinstellung, die die Richterbank nur im Gesamten und nur aus der Distanz erfasst, kann durchaus die Wahrnehmungsmöglichkeit eingeschränkt sein und hinter der Beobachtungsmöglichkeit bei einer Anwesenheit vor Ort zurückbleiben.31 31 BVerfG, Beschl. v. 15.1.2024 – 1 BvR 1615/23 Rn. 10 f. c) FOLGERUNGEN FÜR DIE ZUSCHALTUNG VON VERSCHIEDENEN ORTEN Überträgt man diese Grundsätze auf die Zuschaltung der Mitglieder des Spruchkörpers von verschiedenen Orten, ist zu fragen, ob mit den verfügbaren technischen Mitteln die Gegebenheiten einer Präsenzverhandlung nachgebildet werden können. Falls Verfahrensabläufe nicht dergestalt abbildbar sind, wäre im nächsten Schritt zu fragen, ob damit ein Verlust an rechtsstaatlicher Qualität einhergeht. aa) WAHRNEHMBARKEIT ALLER MITGLIEDER DES SPRUCHKÖRPERS Zwingende Grundvoraussetzung ist daher zunächst, dass alle Mitglieder des Spruchkörpers frontal sichtbar sind. Nur so ist eine Kontrolle der Besetzung des Gerichts möglich sowie Gestik und Mimik für die Verfahrensbeteiligten wahrnehmbar. Mit keinem denkbaren technischen System der Welt wird aber eine für die Verfahrensbeteiligten wahrnehmbare Interaktion des Spruchkörpers möglich sein. Darunter ist nicht die geheime Beratung zu verstehen, sondern die wechselseitigen Reaktionen auf Verfahrensabläufe, die auch aus Gesten, Mimik, Blickkontakt oder Körperhaltung bestehen kann – sprich: die Wahrnehmung der Richterbank als einheitlichen Spruchkörper.32 32 So sieht auch die Begründung des RegE ein Erfordernis, das Kollegialorgan grundsätzlich als Einheit wahrnehmen zu können, BT-Drs. 20/8095, 51. Demnach haben bei der Zuschaltung die Verfahrensbeteiligten einen eingeschränkten Zugang zu den Entscheidungsprozessen des Spruchkörpers. Ohne die Möglichkeit zur Wahrnehmung von Körpersprache, Mimik und atmosphärischen Vorgängen kann das Verhalten des Spruchkörpers nicht zum Maßstab des eigenen Handelns gemacht werden.33 33 Francken/Natter, NZA 2021, 153, 154. So kann z.B. ein skeptischer Blick zum Richterkollegen, ein leichtes Nicken des Spruchkörpers untereinander oder eine für die Parteien akustisch nicht wahrnehmbare, da geflüsterte, Rückfrage an die Vorsitzende für die weitere Verhandlungstaktik der Parteien entscheidend sein.34 34 Lediglich auf die Wahrnehmbarkeit der einzelnen Richter oder der Gegenseite bezogen BFH, Beschl. v. 18.8.2023 – IX B 104/22 Rn. 5 und BFH, Beschl. v. 30.6.2023 – V B 13/22 Rn. 4. Die Zuschaltung der Mitglieder des Spruchkörpers von verschiedenen Orten kann daher mit einem wesentlichen Verlust von möglichen und alternativen Verhandlungsführungen für die Parteien verbunden sein. Insbesondere bei komplexen Verfahren oder solchen, in denen es im besonderen Maße auf die sozial-emotionale Beurteilung ankommt, wird eine Interaktion der Mitglieder des Spruchkörpers üblicherweise in der Präsenzverhandlung erfolgen. Umso bedeutender wird dann die Wahrnehmung der entscheidungstragenden Richterinnen und Richter als einheitlichen Spruchkörper. bb) ZUSCHALTUNG VON VERSCHIEDENEN ORTEN ALS AUSNAHMEREGELUNG Will man nach dem vorher Gesagten überhaupt eine Zuschaltung der einzelnen Mitglieder des Spruchkörpers von verschiedenen Orten zulassen, kommt nur in Betracht, die Zuschaltung als Ausnahmefall kenntlich zu machen. Richtigerweise lässt die Neuregelung die Zuschaltung der einzelnen Mitglieder des Spruchkörpers nur aus erheblichen Gründen zu.35 35 So auch schon BT-Drs. 20/8095, 51. Dadurch kann eine gezielte Abwägung im Einzelfall zwischen einem etwaigen Wahrnehmungsdefizit und Verfahrensökonomischen-Vorteilen vorgenommen werden. cc) ENTSCHEIDUNG DER PARTEIEN Ebenso sollte die Entscheidung über die Möglichkeit der Zuschaltung den davon primär Betroffenen, also den Parteien obliegen. Anders sahen das noch der Referentenentwurf und der Bundestags-Rechtsausschuss sowie nun die Neuregelung, die die Entscheidung über die digitale Teilnahme von Mitgliedern eines Spruchkörpers DENZ, PRAKTISCHE PROBLEME BEI VIDEOVERHANDLUNGEN BRAK-MITTEILUNGEN 3/2024 AUFSÄTZE 128
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