„Sehr geehrter Herr Kollege Gellner, für Ihre Mitteilung vom 22. Januar 1990 bedanke ich mich. Danach hat das Präsidium der Bundesrechtsanwaltskammer mich zum neuen Vorsitzenden des Verfassungsrechtsausschuß ,bestimmt‘. Ich bin bereit ab 1.1. 1990 die Verantwortung für den Verfassungsrechtsausschuß zu übernehmen, hätte es aber gleichwohl begrüßt, wenn man mich der guten Form halber vorher gefragt hätte, ob ich bereit wäre, dieses Amt anzutreten.“ Also verfassungsrechtlich ein klarer Gehörsverstoß, der aber geheilt wurde. Wie geht man in einer Körperschaft des öffentlichen Rechts mit solchen Fehlern um? Man ruft den Betroffenen an und schreibt für die Nachwelt eine Aktennotiz. In dieser Notiz vom 29.1.1990 teilt der damalige Hauptgeschäftsführer Gellner der Nachwelt über das Telefonat mit Dir Folgendes mit: „Ich entschuldigte mich, dass er [- Christian Kirchberg -] ohne Absprache und Einholung seines Einverständnisses zum Vorsitzenden bestellt wurde. Ich wies darauf hin, daß Herr Zuck bereits 1988 zu erkennen gegeben habe, daß er im Hinblick auf die angestrebte Präsidentschaft der RAK Stuttgart ausscheiden wolle. Im Einvernehmen mit ihm habe das Präsidium beschlossen, daß er zum 31.12.1989 ausscheidet. Auf seine Anregung sei Dr. Quaas mit Wirkung ab 1.1.1990 in den Ausschuß berufen worden. Auf seinen Vorschlag sei er, Dr. Kirchberg, zum Vorsitzenden bestellt worden. Das Präsidium und auch ich seien aufgrund des damaligen Vortrags von Dr. Eich davon ausgegangen, daß dieses alles zwischen den Herren Zuck, Kirchberg, Quaas und Eich verabredet gewesen sei. Man habe nur damals von einer Bekanntgabe der betroffenen Beschlüsse abgesehen und die Publizierung auf den Termin des Inkrafttretens der neuen Regelung verschoben. Aus diesem Grund hätte ich nunmehr das Informationsrundschreiben an den Verfassungsrechtsausschuß versandt. Herr Kirchberg bekannte, daß er meinen Anruf erwartet habe und sich darüber freue. Natürlich sei er gerne vorher gefragt worden. Er nähme die Erklärung und Entschuldigung an und damit sei die Sache erledigt.“ So war das damals, lieber Christian Kirchberg. Aber es gibt einen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit. Die BRAK hat dazugelernt. Ich wurde gefragt, bevor das Präsidium mich zu Deinem Nachfolger bestimmt hat. IV. CHRISTIAN KIRCHBERG UND DIE HAUPTAUFGABE DES AUSSCHUSSES Der zweite Teil des offiziellen Themas bezieht sich auf die Hauptaufgabe des Verfassungsrechtsausschusses. Er soll nicht allgemein Stimme der Anwaltschaft sein, sondern lediglich – aber immerhin – „vor dem Bundesverfassungsgericht als Sachverständiger des Rechtsstaats“. Du, lieber Christian Kirchberg, hättest das exakter formuliert. „Vor“ dem BVerfG hört sich viel zu sehr nach mündlicher Verhandlung und nach Präsenzterminen in Karlsruhe an. Das gibt es aber praktisch nicht. Auf die wenigen Ausnahmen komme ich später noch zurück. Der Verfassungsrechtsschuss oder Du als sein Vorsitzender ist nicht die Stimme der Anwaltschaft vor dem BVerfG. Er ist die Stimme der Anwaltschaft gegenüber dem BVerfG. Denn in erster Linie geht es darum, schriftliche Stellungnahmen abzugeben. Wie es so schön heißt, erleichtert ja ein Blick ins Gesetz die Rechtsfindung – hier jedenfalls die Erkenntnis, was Du und wir im Ausschuss eigentlich machen. In § 27a BVerfGG heißt es: „Das Bundesverfassungsgericht kann sachkundigen Dritten Gelegenheit zur Stellungnahme geben.“ Das BVerfG wendet diese Norm regelmäßig auf die BRAK an. Im Regelfall schlägt das dann beim Verfassungsrechtsausschuss auf. Sind der Ausschussvorsitzende und die Mitglieder des Ausschusses damit „Sachverständige des Rechtsstaats“? Lassen wir den Rechtsstaat mal weg. Nach dem Gesetzeswortlaut sind sie jeweils sachkundige Dritte. Dritte sind alle, die nicht Beteiligte des verfassungsgerichtlichen Verfahrens sind. Obwohl das Gesetz von Sachkunde spricht, arbeitet das BVerfG mit dem Begriff des Sachverständigen. Übrigens ist es manchmal erstaunlich, wem das BVerfG Gelegenheit zur Stellungnahme gibt und wem nicht. Die Frage der Sachkunde des Dritten bestimmt sich nicht objektiv, sondern subjektiv. Wen das Gericht zur Abgabe einer Stellungnahme einlädt, der ist dann halt auch sachkundig – weil das Gericht ihn für sachkundig hält. Das eröffnet aber auch Möglichkeiten. Gelegentlich erfährt die BRAK davon, dass das BVerfG Verfahren an viele Dritte zugestellt und zur Abgabe einer Stellungnahme aufgefordert hat – bloß nicht an die BRAK. Oder noch schlimmer: nur an den Deutschen Anwaltverein. In solchen Fällen kann jeder, der sich für einen sachkundigen Dritten hält und eine Stellungnahme abgeben möchte, dem Gericht sein Interesse anzeigen. Also um eine Einladung zur Abgabe einer Stellungnahme bitten. Wenn Christian Kirchberg das gemacht hat, hat das immer geklappt. Es war deshalb nicht nötig, auf das US-amerikanische Institut des amicus curiae auszuweichen. In den USA ist es ja üblich, dass unbeteiligte Dritte ungefragt Schriftsätze in einem Verfahren einreichen, um das Gericht freundschaftlich darauf hinzuweisen, wie es richtig entscheiden müsste. Was ist der Zweck von § 27a BVerfGG?3 3 Vgl. dazu auch Lenz/Hansel, BVerfGG, 3. Aufl. 2020, § 27a Rn. 2. Das BVerfG soll die Möglichkeit haben, betroffene Personengruppen und deren Interessenvertretungen in den Entscheidungsprozess einzubinden. Es erhält auf diese Weise umfassende Kenntnis von den in der Gesellschaft vorzuLENZ, DIE STIMME DER ANWALTSCHAFT VOR DEM BVERFG ALS SACHVERSTÄNDIGER DES RECHTSSTAATS BRAK-MITTEILUNGEN 4/2024 AUFSÄTZE 190
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