BRAK-Mitteilungen 4/2024

unsere Stellungnahmen werden in den Entscheidungen des BVerfG fast immer erwähnt, überwiegend aber nur im Sachverhalt. In den Entscheidungsgründen selbst tauchen sie nur ganz selten auf. Eine Ausnahme aus neuerer Zeit ist etwa die Entscheidung zur finanzverfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Bettenabgabe der Stadt Hamburg vom 22.3.2022. Wer es nachlesen will: BVerfGE 161, 1 Rn. 103. Dort hat der Erste Senat tatsächlich eine Auslegungsaussage zum Grundgesetz gemacht und zum Beleg formuliert: „So auch die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer“. Mich hat das besonders gefreut, weil ich damals Berichterstatter in dieser Sache war. Und wie sieht es mit der Übereinstimmung im Ergebnis aus? In der Mehrzahl der Fälle kamen Christian Kirchbergs Ausschuss und das BVerfG zum selben Ergebnis. Aber in einem guten Drittel der Fälle eben auch nicht. Das spricht nicht gegen den Ausschuss – und noch nicht einmal gegen das BVerfG. Im Verfassungsrecht ist eben vieles wertungsabhängig. Deshalb zählen Argumente. Es zählen aber auch die persönlichen Einstellungen der Entscheider. Wir hatten im Ausschuss zwei Mal Fälle zum sogenannten Treaty override. Im ersten Fall war der Berichterstatter Michael Uechtritz. Ihm folgend hielten wir es für verfassungskonform. Einige Zeit später konnte Karsten Fehn beim nächsten Fall die Hälfte des Ausschusses vom Gegenteil überzeugen. Die Entscheidung vom BVerfG steht noch aus. VIII. CHRISTIAN KIRCHBERG TATSÄCHLICH EINMAL VOR DEM BUNDESVERFASSUNGSGERICHT Und dann gibt es sie doch. Die Fälle, in denen mündlich verhandelt und die Bundesrechtsanwaltskammer dazu geladen wird. Das sind, lieber Christian Kirchberg, die Höhepunkte in der Tätigkeit eines Ausschussvorsitzenden. Du hast das immer gern gemacht. Und rechtzeitig zum Ende Deiner Amtszeit kam es dann noch einmal dazu. Am 26. September des letzten Jahres durftest Du die BRAK vor dem Ersten Senat vertreten, und zwar in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffend Vaterschaftsanfechtung nach § 1600 BGB. Ja, meine Damen und Herren, Sie kennen alle diesen Fall. Der Erste Senat hat seine Entscheidung am Dienstag verkündet7 7 BVerfG, Urt. v. 9.4.2024 – 1 BvR 2017/21. und die Medien haben darüber breit berichtet. Und natürlich haben wir Dich, lieber Christian Kirchberg, als offiziellen Vertreter der BRAK und des Verfassungsrechtsausschusses zur Urteilsverkündung geschickt. Das war auch verdient. Diesen Fall – es war Dein letzter – hattest Du auch als Berichterstatter gemeinsam mit der Vorsitzenden des Ausschusses für Familien- und Erbrecht votiert8 8 Vgl. BRAK-Stn. Nr. 26/2023, abrufbar unter www.brak.de/die-brak/ausschuesse/au sschuss-verfassungsrecht/. – und zwar erst drei Monate vor der mündlichen Verhandlung. Oftmals vergehen ja Jahre zwischen der Einreichung unserer Stellungnahme und einer Verhandlung und/oder Entscheidung in Karlsruhe. Bist Du vor dem BVerfG angemessen zu Wort gekommen? Natürlich. Denn Du weißt ja, wie man das macht. Es gibt immer eine Vorbesprechung. Und dort empfiehlt es sich, dem Senatsvorsitzenden zu sagen, dass und wie lange man sprechen will – und warum das für das Gericht gut ist. Also hast Du die Hand gehoben und das mit dem Präsidenten, Herrn Harbarth, glattgezogen. Und so bist Du dann in der mündlichen Verhandlung angemessen zu Wort gekommen. Das ist auch gar nicht so selbstverständlich. Es gibt einen gewissen Kontrast. Zwischen der Freudigkeit, mit der das BVerfG sachkundige Auskunftspersonen zur mündlichen Verhandlung lädt, und der Bereitschaft, die Geladenen dann auch tatsächlich ausgiebig zu Wort kommen zu lassen. Etwa in der Mitte Deiner Amtszeit als Vorsitzender, im April 2005, warst Du beim Zweiten Senat in der mündlichen Verhandlung zum Europäischen Haftbefehl. Geladen hatte man aber nicht nur Dich als Vorsitzenden des Verfassungsrechtsausschusses. Man hatte auch den Vorsitzenden des Strafrechtsausschusses der BRAK geladen. Und dann noch einmal die zwei Vertreter der beiden entsprechenden Ausschüsse des DAV. Der seinerzeitige Vorsitzende des Zweiten Senats, der leider verstorbene Winfried Hassemer, fand: Das sind drei Anwälte zu viel – ob nicht einer das sagen könnte, was alle vier dächten. Aber so ticken wir Anwälte eben nicht! Natürlich hast Du für Deinen Ausschuss gesprochen und die anderen für ihre Ausschüsse. Das war im konkreten Fall auch angemessen. Auch die Richter waren unterschiedlicher Meinung. Von den acht Richtern des Zweiten Senats haben nur fünf die Entscheidung getragen, die drei anderen haben abweichende Meinungen formuliert – und das natürlich getrennt. Wer es nachlesen will: BVerfGE 113, 273. Etwas robuster durchsetzen musstest Du Dich auch gegenüber dem früheren Präsidenten Papier, also im Ersten Senat. Da ging es 2004 um die akustische Wohnraumüberwachung und die Änderung von Art. 13 III GG.9 9 BVerfGE 109, 279. In diesem Fall hast Du Dich gegenüber Präsident Papier robust vorgedrängelt. Obwohl andere Äußerungsberechtigte im Verfahrensablauf vor Dir drangekommen wären, hast Du Dich an die Spitze setzen lassen – mit dem starken Argument, dass Du am Nachmittag im Bundestag bei einer Ausschussanhörung als Sachverständiger erwartet würdest. Also wurde Dein Beitrag vorgezogen. Du hast Deine Ausführungen gemacht. Und dann bist Du zum Flughafen geeilt – mit wehenden Rockschößen. So hast Du an einem Tag zwei Sachverständigenauftritte unter einen Hut gebracht. Einmal beim Bundesverfassungsgericht, einmal beim Bundestag. Ein Tausendsassa! Du wirst eben überall gebraucht. BRAK-MITTEILUNGEN 4/2024 AUFSÄTZE 192

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