II. DER DEUTSCHE VERFASSUNGSTEXT ADRESSIERT DIE ANWALTSCHAFT NICHT HINREICHEND Der Beruf der Rechtsanwältin und des Rechtsanwalts ist wie kaum ein anderer Beruf durch die verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen Vorgaben geprägt.4 4 Hierzu nur Wolf, in FS 60 Jahre BRAK, 2019, 73 ff. Der Beruf hat aber selbst weder Eingang in das Grundgesetz, sieht man einmal von der Kompetenznorm über die konkurrierende Gesetzgebung in Art. 74 I Nr. 1 GG ab, noch in die EMRK gefunden. Auch in der Europäischen Grundrechtecharta hat der Beruf des Rechtsanwalts nur sehr indirekt Eingang gefunden. 1. DAS GRUNDGESETZ IST IN BESONDEREM UMFANG GERICHTS- BZW. JUSTIZZENTRIERT Die rechtsprechende Gewalt ist den Richterinnen und Richtern anvertraut (Art. 92 GG). Und den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten? Spielen sie bei der Rechtsfindung nicht eine wichtige Rolle? Auf einfachgesetzlicher Ebene bezeichnet der Gesetzgeber den Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege. Ausdrücklich benannt wird dieses Organ der Rechtspflege im GG aber nicht. Der ehemalige Präsident des BGH Gerd Pfeiffer sieht in den Anwälten gleichberechtigte Partner bei der Rechtsfindung: „Das Recht wird im Kampf der Meinungen erkannt und weitergebildet. Der Dialog ist das Lebenselement des Prozesses.“5 5 Pfeiffer, BRAK-Mitt. 1987, 102, 103. Man hätte sich daher gewünscht, dass das Grundgesetz auch die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als gleichberechtigte Organe der Rechtspflege adressiert hätte. Auch ein Recht auf Verteidigung formuliert das GG im Gegensatz zur EMRK (Art. 6 III lit. c) nicht. Gleiches gilt für das Recht auf Prozesskostenhilfe.6 6 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass das Grundgesetz nicht die Prozesskostenhilfe in einem bestimmten Umfang garantiert. Das BVerfG leitet den verfassungsrechtlich abgesicherten Anspruch aus Art. 3 I und Art. 20 III GG ab, vgl. nur BVerfG, NJW 1991, 413. Man liest den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Prozesskostenhilfe aus der Verfassung heraus, was nahezu zwangsläufig zu einem größeren Interpretationsspielraum führt. So besteht in einem Verfahren ohne Anwaltszwang nur ein Anspruch auf einen Rechtsanwalt im Rahmen der Prozesskostenhilfe, wenn auch die Gegenseite durch einen Rechtsanwalt vertreten ist. Ist die Gegenseite, z.B. eine Behörde, durch einen Rechtskundigen vertreten, liegt kein Fall von § 121 II ZPO vor; die Regelung ist, so das BVerfG, verfassungskonform, BVerfG, NJW 1988, 2597. Deutlich musikalischer ist hier die EuGrCh. Die justiziellen Rechte im VI. Abschnitt adressieren als erstes die betroffenen Bürgerinnen und Bürger. Die in ihren garantierten Rechten oder Freiheiten verletzten Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, bei Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, Art. 47 I EuGrCh. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen, Art. 47 II EuGrCh. Das Recht, sich beraten zu lassen, ist dabei nicht auf die Beratung durch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte beschränkt.7 7 Eser/Kubiciel, in Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl., 2019, Art. 47 Rn. 40. Nach Art. 47 II EuGrCh würde auch eine Beratung durch Laien Genüge tun.8 8 Ursprünglich sah der Entwurf der Grundrechtecharta noch die Beratung durch einen Rechtsanwalt vor, Charta 4333/00 Art. 8. Soweit erforderlich und wenn die notwendigen Mittel fehlen, besteht das Recht auf Prozesskostenhilfe, Art. 47 III EuGrCh. Den Angeklagten werden die Verteidigungsrechte gewährleistet, Art. 48 II EuGrCh. Art. 48 II EuGrCh greift den Anspruch auf ein faires Verfahren und die Regelung in Art. 6 EMRK auf.9 9 Blanke, in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl., 2022, Art. 48 Rn. 5. Im Gegensatz zum Grundgesetz hat das Recht auf Verteidigung den Weg in eine ganze Reihe europäischer Verfassungen gefunden.10 10 Eser/Kubiciel, in Meyer/Hölscheidt, Art. 48 GRCh Rn. 26. Damit sind die rechtsstaatlichen Voraussetzungen für die anwaltliche Tätigkeit jedoch noch nicht ausreichend beschrieben. Allgemein werden in der deutschen Diskussion folgende Core Values11 11 Der Begriff der Core Values ist jedenfalls dann wenig glücklich, wenn man ihn auf den Rechtsanwalt bezieht. Es sind nicht Core Values des Rechtsanwalts, sondern Grundwerte der anwaltlichen Tätigkeit, denen der Rechtsanwalt verpflichtet ist. Entsprechend spricht der EuGH daher auch von einer Pflicht, welche dem Rechtsanwalt zur Erfüllung der grundlegenden Aufgabe in einer demokratischen Gesellschaft übertragen wurde; vgl. EuGH, Urt. v. 8.12.2022 – C-694/20 (Orde van Vlaamse Balies) Rn. 28, BRAK-Mitt. 2023, 40 Ls. zu den rechtsstaatlichen Voraussetzungen gezählt:12 12 Henssler, ZZP 115 (2002), 328. – Wahrung des anwaltlichen Berufsgeheimnisses (Schweigerecht und Schweigepflicht) – Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen – Anwaltliche Unabhängigkeit – Sachlichkeitsgebot Neben diesen Grundpflichten kennt das anwaltliche Berufsrecht eine Reihe von weiteren Pflichten, welche Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zu beachten haben, wie das Verbot der Umgehung des Gegenanwalts oder die Verpflichtungen beim Umgang mit Fremdgeld. 2. SCHUTZ DES MANDANTEN UND/ODER SCHUTZ DES RECHTSANWALTS? Kirchberghat darauf hingewiesen, dass sich zwei Stränge der inhaltlich verfassungsrechtlichen Absicherung der Institution Rechtsanwaltschaft herausgebildet haben: Zum einen die Sicht desjenigen, der vor Gericht oder Behörden anwaltlichen Beistands bedarf; zum anderen der, wie Kirchberg schreibt, durch Art. 12 GG geschützten „freien Advokatur“.13 13 Kirchberg, BRAK-Mitt. 2018, 279. Bei Letzterem handelt es sich um die Perspektive der Rechtsanwältin bzw. des Rechtsanwalts oder genauer um die anwaltliche Erwerbsperspektive.14 14 Kirchberg, BRAK-Mitt. 2018, 279. Gerade in der letzten Zeit stand die letzte Perspektive zu sehr im Vordergrund. Durchsucht man z.B. den von Henssler verfassten DAV-Diskussionsvorschlag zum anwaltlichen Gesellschaftsrecht15 15 AnwBl. Online 2018, 564 ff. nach den Stichworten RVG, Quersubventionierung, Zugang zum Recht, rechtWOLF, GEFÄHRDUNGEN DES RECHTSSTAATS – DIE ANWALTSCHAFT ALS VERTEIDIGERIN DES RECHTSSTAATS BRAK-MITTEILUNGEN 4/2024 AUFSÄTZE 194
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