tet. Der einfache Gesetzgeber ist hier deutlich weiter als die verfassungsrechtliche Interpretation von Art. 103 I GG durch das BVerfG und die herrschende Meinung. Sowohl § 104 I VwGO als auch § 139 I ZPO verpflichten die Richterin bzw. den Richter auch zur Erörterung der Rechtslage. Bezieht sich das rechtliche Gehör sowohl auf die Tatsachen als auch auf die zu klärenden Rechtsfragen, setzt rechtliches Gehör rechtliches Wissen voraus. In den Worten von Klaus Stern: „Rechtliches Gehör und geordnetes Verfahren kann nicht von Jedermann wahrgenommen oder überwacht werden, sondern nur von dem, der um das Recht und seine Durchsetzung Bescheid weiß.“27 27 Stern, Anwaltschaft und Verfassung, 1980, 6. Die Rolle von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten bei der Rechtsfindung als dialogischer Prozess ist der archimedische Punkt des Anwaltsrechts. Adolf Arndt hat seine Überlegungen 1958 und 1959 publiziert.28 28 Arndt, NJW 1958, 337 f. und ders., NJW 1959, 6 ff. In einer Reihe von Arbeiten wurde seitdem immer und immer wieder betont, dass das Gericht eine sachgerechte Entscheidung nur mit Hilfe eines Rechtsgesprächs finden kann. Die Trennung von Fakten und Recht „da mihi factum, dabo tibi jus“ ist alleine schon deshalb unzutreffend, weil die Festlegung des entscheidungserheblichen Sachverhalts Rechtsanwendung ist. Nur in sehr kleinen Schritten öffnet das BVerfG Art. 103 GG einem Anspruch auf rechtliches Gehör auch zu Rechtsfragen. Grundsätzlich gewährleistet Art. 103 GG nur das Recht der Parteien, sich zu dem der richterlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern. Nur soweit das Gericht seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, mit dem auch ein kundiger Parteivertreter unter Berücksichtigung der Vielfalt der vertretbaren Rechtsauffassung nicht zu rechnen brauchte, wäre ein Hinweis zur Rechtsansicht notwendig.29 29 BVerfGE 84, 188. Zwischen dem rechtlichen Gehör auch zu Rechtsfragen und dem Anspruch rechtlichen Gehörs durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt besteht ein unmittelbarer Zusammenhang. Art. 103 I GG garantiert nicht nur rechtliches Gehör zu Rechtfragen, sondern auch durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt. Erstaunlich ist, dass der 2. Senat des BVerfG den Anspruch auf rechtliches Gehör durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt anerkannt hat, aber nur für Zeuginnen und Zeugen. Das Recht auf einen Rechtsbeistand gewährleistet Zeuginnen und Zeugen demgegenüber, so der 2. Senat, die Möglichkeit, ihre prozessualen Befugnisse umfassend und sachgerecht wahrzunehmen.30 30 BVerfGE 38, 105. In diesem Zusammenhang ist auch an die Funktion von § 78 ZPO zu erinnern. Die dialogische Struktur des Zivilprozesses erfordert, dass beide Parteien diesen Anforderungen gewachsen sind, mit anderen Worten beide Parteien gleich kompetent sind.31 31 Braun, Lehrbuch des Zivilprozessrechts, 2014, 380. Da es sich hierbei um eine Fiktion handelt, wird die faktische Gleichheit durch den Anwaltszwang hergestellt.32 32 Braun, Lehrbuch des Zivilprozessrechts, 380. Voraussetzung hierfür ist aber, dass ein hinreichend homogener Anwaltsmarkt besteht, damit die Vertretung durch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte die ungleiche Befähigung der Parteien nicht verstärkt.33 33 Braun, Lehrbuch des Zivilprozessrechts, 381. Der Ausgleich der faktisch ungleichen Befähigung der Parteien, ihre Interessen vor Gericht richtig zu vertreten, setzt aber auch einen Anwaltsmarkt voraus, in dem die Mandaten eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt finden können, deren Bezahlung für sie leistbar ist. Leistbar bedeutet in diesem Zusammenhang zweierlei. Die Inanspruchnahme des gerichtlichen Rechtsschutzes mit anwaltlicher Hilfe darf nicht an der subjektiv-absoluten Kostensperre scheitern. Der Zugang zum Recht darf der Partei nicht aufgrund ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit versperrt sein.34 34 Hierzu bereits ausführlich Wolf, in FS 60 Jahre BRAK, 2019, 63, 163. Dies ist zunächst der Bereich der Prozesskostenhilfe. Denjenigen, welche keine eigenen Mittel haben, um den Prozess führen zu können, müssen staatliche Mittel zur Verfügung gestellt werden. Neben den fehlenden Mitteln muss die Rechtsverfolgung hinreichend Aussicht auf Erfolg haben, § 114 ZPO. Neben der subjektiv-absoluten Kostensperre tritt die objektiv-relative Kostensperre. Diese liegt vor, wenn das Kostenrisiko zu dem mit dem Verfahren angestrebten wirtschaftlichen Erfolg derart außer Verhältnis steht, dass die Anrufung der Gerichte nicht mehr sinnvoll erscheint. Zu den Kosten rechnet das BVerfG nicht nur die Gerichtskosten, sondern auch die Anwaltskosten.35 35 BVerfGE 85, 337, 348. Die richterliche Rechtsfindung ist nicht das Ergebnis eines autistischen richterlichen Erkenntnisprozesses, sondern muss im Dialog mit den Parteien erarbeitet werden. Hierfür ist es erforderlich, dass die Parteien eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt finden können, der diese in die Lage versetzt, i.S.v. § 78 ZPO einen Dialog mit dem Gericht und Gegner zu führen. Dabei dürfen die Anwaltskosten nicht zu einer objektivrelativen Kostensperre führen. Das Anwaltsrecht hat sowohl der Binnenperspektive des Unternehmens Anwaltskanzlei zu dienen als auch der Außenperspektive des Zugangs zum Recht. Es gilt dabei auf der einen Seite, eine objektiv-relative Kostensperre zu verhindern, und zugleich auch auf der anderen Seite eine hinreichende Ertragsmöglichkeit für die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zu gewährleisten, damit die Institution Rechtsanwaltschaft gesichert bleibt.36 36 Hierzu Gerhold, Anwaltliche Berufsausübung im Dienst des Rechtsstaats, 2023, 343. BRAK-MITTEILUNGEN 4/2024 AUFSÄTZE 196
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