4. GRUNDRECHTSKOLLISION ODER DIENENDES FREIHEITSRECHT Die freie Advokatur unterliegt unter der Herrschaft des Grundgesetzes der freien und unreglementierten Selbstbestimmung der einzelnen Rechtsanwältin und des einzelnen Rechtsanwalts.37 37 So das BVerfG in st.Rspr., vgl. nur NJW 2007, 2317. Findet die Freiheit der Rechtsanwältin bzw. des Rechtsanwalts aber nicht ihren Halt in dem Grundrecht des Mandanten auf rechtliches Gehör durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt, droht etwas aus der Balance zu geraten. Besteht nicht zwischen der anwaltlichen Berufsfreiheit auf der einen Seite und dem Grundrecht des Mandanten auf rechtliches Gehör auf der anderen Seite eine Grundrechtskollision, die im Sinne der praktischen Konkordanz aufzulösen ist?38 38 Allgemein zur Grundrechtskollision nur Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, 18. Aufl., 2024, Vorbem. Art. 1 GG Rn. 53 m.w.N. So hat das BVerfG z.B. die gesetzliche Regelung zur Angemessenheit der Vergütung des Urhebers durch den Verwerter anhand der praktischen Konkordanz geprüft. Die Regelung greift zwar in die Berufsfreiheit des Verwerters ein, indem es der freien Vertragsgestaltung Grenzen setzt. Dabei geht es, so das BVerfG, um den Ausgleich widerstreitender Interessen, nämlich den Interessen des Urhebers und denjenigen des Verwerters. „Insoweit handelt es sich nicht um einseitige Eingriffe des Staates in die Freiheitsausübung Privater, sondern um einen Ausgleich, bei dem die Freiheit der einen mit der Freiheit der anderen in Einklang zu bringen ist.“ Und weiter: „Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und – unter Berücksichtigung des sozialstaatlichen Auftrags – nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.“39 39 BVerfG, NJW 2014, 46, 47 Rn. 68. Paradigmatisch löst das BVerfG den Konflikt zwischen zwei Grundrechtsträgern hier über das Institut der praktischen Konkordanz auf. Im Grunde ist die Situation mit derjenigen zwischen Rechtsanwalt und rechtsschutzsuchendem Bürger vergleichbar. Es geht um die beiden Stränge der verfassungsrechtlichen Absicherung der Institution Rechtsanwaltschaft, nämlich zum einen um den grundrechtlichen Schutz desjenigen, welche vor Gericht oder Behörden anwaltlichen Beistands bedarf. Und zum anderen derjenigen, die sich als Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte auf die „freie Advokatur des Rechtsanwalts“, welche durch Art. 12 GG geschützt ist, stützen. Kurz: Es geht um die Stärkung der verfassungsrechtlichen Position der Mandanten oder potentiellen Mandanten auf rechtliches Gehör durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt gegenüber einer schlichten Ökonomisierung der anwaltlichen Berufsfreiheit.40 40 Hierzu bereits Wolf, in FS für Schneider, 2008, 414 ff. Bereits der Titel der vonvon Lewinski betreuten Dissertation von Maximilian Gerhold rückt den Rechtsstaatsbezug der anwaltlichen Tätigkeit in den Mittelpunkt: Anwaltliche Berufsausübung im Dienst des Rechtsstaats.41 41 Gerhold, Anwaltliche Berufsausübung im Dienst des Rechtsstaats, 2023. Gerholdwill den Konflikt zwischen den beiden Strängen, nämlich der Berufsfreiheit der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte und dem Anspruch auf rechtliches Gehör der Mandanten, über den Begriff der dienenden Freiheit auflösen. Er übertrug die Idee der dienenden Freiheit aus dem Bereich der Rundfunkfreiheit auf die Berufsfreiheit der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Die Rundfunkfreiheit ordnet das BVerfG als dienende Freiheit ein.42 42 BVerfG, NJW 1987, 2987, 2988. Die subjektiven und objektiven Elemente der Rundfunkfreiheit sichern den demokratischen Willensbildungsprozess ab. Der Rundfunk, so das BVerfG, ist als öffentliche Aufgabe zu qualifizieren, die jedoch andererseits staatsfern zu organisieren ist.43 43 Gerhold, Anwaltliche Berufsausübung im Dienst des Rechtsstaats, 2023, 350 ff. Es gilt, ein Grundrechtsverständnis der anwaltlichen Berufsfreiheit zu entwickeln, welcher die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter der Mandanten absichert. Als dienende Freiheit, so Gerhold, haben die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte einen unmittelbaren Handlungsauftrag, nämlich das rechtliche Gehör der Mandanten durch eine Rechtsanwältin bzw. einen Rechtsanwalt sicherzustellen.44 44 Gerhold, Anwaltliche Berufsausübung im Dienst des Rechtsstaats, 34. Eine Handlungspflicht sei damit nicht verbunden. Es geht um die ungehinderte Ausübung von Befugnissen im Interesse eines besonderen verfassungsrechtlichen Schutzgutes des allgemeinen Wohls oder im Interesse der Verwirklichung des Rechts- oder Freiheitsstatus Dritter, so Gerhold, unter Berufung auf Burmeister.45 45 Burmeister, in FS für Stern, 851; Gerhold, Anwaltliche Berufsausübung im Dienst des Rechtsstaats, 34. Damit grenzt sich die dienende Freiheit des Rechtsanwalts von der sonstigen Berufsfreiheit ab, welche die ungehinderte Ausübung von Befugnissen um des Einzelnen selbst willen gewährleistet. Mit der Übertragung des Begriffs der dienenden Freiheit löst Gerholddas Paradoxon auf, dass Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte eine im Kern öffentliche Aufgabe wahrnehmen, welche um ihrer selbst willen staatsfern zu organisieren ist. Der These der Auflösung der Grundrechtskollision zwischen der Grundrechtsposition des Mandanten und der Berufsfreiheit der Rechtsanwältin bzw. des Rechtsanwalts durch praktische Konkordanz hält Gerhold entgegen: Die grundrechtlichen Positionen des Mandanten „durchdringen und [...] begrenzen vielmehr die Berufsfreiheit. Diese „Durchdringung und Begrenzung“ ist das typische der dienenden Freiheit und sie nachzuzeichnen ist Ziel der vom Gesetzgeber zu schaffenden „positiven Ordnung“.46 46 Gerhold, Anwaltliche Berufsausübung im Dienst des Rechtsstaats, 423. 5. GEFAHREN UND ANSCHLUSSFÄHIGKEIT Zunächst ist die Idee der dienenden Freiheit nicht völlig gefahrlos. Lässt sich mit der dienenden Freiheit nicht die Rechtsanwältin oder der Rechtsanwalt auf bestimmte Ergebnisse verpflichten? Das Strafprozessrecht liefert WOLF, GEFÄHRDUNGEN DES RECHTSSTAATS – DIE ANWALTSCHAFT ALS VERTEIDIGERIN DES RECHTSSTAATS AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 4/2024 197
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