BRAK-Mitteilungen 4/2024

ein Beispiel, wie man Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte mit der Chiffre „Organ der Rechtspflege“ in die Pflicht nehmen will, Stichwort Rügeverkümmerung.47 47 Knauer/Kudlich, in MüKo/StPO, 1. Aufl., 2019, § 333, Rn. 36 ff. Begreift man jedoch den Vorgang der Rechtsfindung als ein dialogisches Verfahren, kann man Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte nicht auf eine ontologische außerhalb des Prozesses gefundene Wahrheit verpflichten.48 48 Wolf, in Gaier/Wolf/Göcken, § 1 BRAO Rn. 29 ff. Tatsachengrundlage und Rechtsansicht stehen außerhalb des Prozesses nicht fest, sondern werden erst im Prozess erarbeitet. Im Grunde wäre es eine Kontradiktion der dienenden Freiheit, dies für staatliche gegen den Mandanten gerichtete Zwecke in Anspruch zu nehmen. Der Vorteil der Lösung vonGerholdist ihre europäische Anschlussfähigkeit. Sowohl der EGMR als auch der EuGH sprechen von Pflichten des Rechtsanwalts. Insbesondere der EGMR nimmt die Anwältinnen und Anwälte für das öffentliche Vertrauen in die Justiz in Anspruch. Ihnen sei eine wesentliche Aufgabe in einer demokratischen Gesellschaft anvertraut worden: die Verteidigung von Beschuldigten. Eine Anwältin oder ein Anwalt kann diese grundlegende Aufgabe aber nicht erfolgreich ausführen, wenn denen, die er verteidigen soll, nicht garantiert wird, dass die Kommunikation zwischen ihnen vertraulich bleibt.49 49 EGMR, Urt. v. 6.12.2012 – Nr. 12323/11, NJW 2013, 3423 (3427 Rn. 118) – Michaud/Frankreich. Das Berufsgeheimnis der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte wird hauptsächlich durch die den Anwältinnen und Anwälten auferlegten Pflichten definiert.50 50 EGMR, Urt. v. 6.12.2012 – Nr. 12323/11, NJW 2013, 3423 (3427 Rn. 119). Ganz ähnlich sieht es der EuGH in der Entscheidung Orde van Vlaamse Balies.51 51 EuGH, Urt. v. 8.12.2022 – C-694/20 Rn. 28, BRAK-Mitt. 2023, 40 Ls. Wie der EuGH in seiner Entscheidung vom 8.12.2022 ausführt, begründet sowohl Art. 7 EuGrCh als auch Art. 8 EMRK die Pflicht zur Berufsverschwiegenheit, damit Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte die ihnen übertragene grundlegende Aufgabe für die demokratische Gesellschaft, die Rechtsunterworfen zu verteidigen, wahrnehmen können. III. ZUSAMMENFASSUNG Kirchberg hat auf die beiden Stränge der Absicherung der Institution der anwaltlichen Tätigkeit hingewiesen: Auf der einen Seite die Sicht derjenigen, der vor Gericht oder Behörden den Beistand einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwalts bedürfen. Und auf der anderen Seite der Schutz der „freien Advokatur“, abgesichert durch Art. 12 GG. Das Anwaltsverfassungsrecht konstituiert sich demnach aus der anwaltlichen Erwerbsperspektive und der Absicherung des Zugangs zum Recht der Bürgerinnen und Bürger. Die Absicherung des Zugangs zum Recht erfordert, dass die Inanspruchnahme der anwaltlichen Dienstleistung nicht durch eine objektiv-relative Kostensperre verhindert wird. Die ursprüngliche Antwort, die objektiv-relative Kostensperre zu vermeiden, war die Idee der Quersubventionierung. Ertragsschwache Mandate sollten in der Person des einzelnen Anwalts durch ertragsstarke Mandate kompensiert werden. Die primäre Ausrichtung des Anwaltsverfassungsrechts an der Binnenperspektive des Unternehmens Anwaltskanzlei hat die Idee der Quersubventionierung ausgehöhlt. Bei kleinen Streitwerten ist es immer schwieriger, eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt zu finden, wie auch die Studie „Zugang zum Recht in Berlin“ zeigt.52 52 Wrase u.a., Zugang zum Recht in Berlin, Zweiter Zwischenbericht, 2023. Die Minimalgesellschaft der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, welche sich an der Quersubventionierung beteiligen, können dies häufig genug nicht mehr schultern. Dabei müsste eigentlich der Rechtsberatungsmarkt mit einem Umsatzvolumen von fast 30 Mrd. Euro groß genug sein, um den gleichen Zugang für alle sicherzustellen. In Zukunft gilt es die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Anwaltsverfassungsrecht weiter zu durchdenken und neu zu justieren. DEM RECHTSSTAAT VERPFLICHTET – DIE BRAK MITTEILUNGEN PROF. DR. CHRISTOPH KNAUER* * Der Autor ist Rechtsanwalt in München und Honorarprofessor für Wirtschaftsstrafrecht und strafrechtliche Revision an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zudem ist er Vorsitzender des BRAK-Ausschusses Strafprozessrecht und Mitglied der BRAK-Arbeitsgemeinschaft Sicherung des Rechtsstaates sowie Vorsitzender des Beirats der BRAK-Mitteilungen. Der Beitrag beruht auf seinem Vortrag anlässlich des Symposiums für Prof. Dr. Christian Kirchberg am 11.4.2024. Seit über 50 Jahren gibt es die BRAK-Mitteilungen und seit fast 25 Jahren werden sie durch einen wissenschaftlichen Beirat begleitet, dem Prof. Dr. Christian Kirchberg von Beginn an vorsaß. Als sein Nachfolger in dieser Rolle wirft der Autor einen Blick zurück auf die Anfänge der BRAK-Mitteilungen und ihre Etablierung als Fachzeitschrift. Anhand von früheren und aktuellen Problemkomplexen zeigt er auf, welche wichtige Rolle die Zeitschrift als Sprachrohr der verfassten Anwaltschaft im Rechtsstaatsdiskurs eingenommen hat und einnimmt. KNAUER, DEM RECHTSSTAAT VERPFLICHTET – DIE BRAK MITTEILUNGEN BRAK-MITTEILUNGEN 4/2024 AUFSÄTZE 198

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