Im hier vom BGH entschiedenen Fall war Gegenstand ein 2020 gebraucht erworbenes Wohnmobil. Der Käufer beabsichtigte, den Fahrzeughersteller auf Rückabwicklung zu verklagen, weil das Fahrzeug mit unzulässigen Abschalteinrichtungen gem. Art. 5 II VO (EG) 715/ 2007, und zwar insb. mit einem „Thermofenster“, ausgestattet war. Der Rechtsschutzversicherer lehnte den Deckungsschutz mangels Erfolgsaussicht mit Schreiben vom 16.2.2021 ab. Am 21.3.2023 entschied der EuGH,1 1 EuGH (Große Kammer), Urt. v. 21.3.2023 – C-100/21 (QB/Mercedes-Benz-Group AG, vormals Daimler AG), NJW 2023, 1111. dass die zugrundeliegenden europäischen Normen (Art. 18 I, Art. 26 I und Art. 46 RL 2007/46/EG i.V.m. der VO (EG) Nr. 385/2009 und Art. 5 II VO (EG) Nr. 715/2007) Einzelinteressen individueller Käufer gegenüber den Herstellern schützen würden. Damit wäre der Weg für eine neue Argumentation frei gewesen, was zumindest hinreichende Erfolgsaussichten für eine Klage begründet hätte. Im Ergebnis „durfte“ also der Rechtsschutzversicherer im Zeitpunkt seiner Entscheidung aus damaliger rechtlicher Sicht den Kostenschutz ablehnen; im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung hätte er ihn aber erteilen müssen. Was soll daraus für die Entscheidung im gegen den Versicherer geführten Deckungsprozess folgen? Das OLG Schleswig hatte im Jahr 2022 – also schon in Kenntnis und unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH – in einem gleichgelagerten Fall entschieden, dass es auf den Zeitpunkt der „Bewilligungsreife“ und eine auf diesen Zeitpunkt bezogene nachträgliche Prognose ankomme.2 2 OLG Schleswig, Beschl. v. 12.5.2022 – 16 U 53/22. Das OLG Hamm als Vorinstanz der BGH-Entscheidung hingegen hielt den Deckungsanspruch des Klägers für gegeben, wenn und weil sich die Umstände, die für die Prognoseentscheidung bedeutend sind, im Verlauf des Deckungsprozesses noch geändert haben. Der BGH bestätigt nun, dass es bei der anzustellenden Prognose über die Prozessaussichten auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz ankommt. Für die Praxis bedeutet das: Sollte der Rechtsschutzversicherer den Kostenschutz ablehnen, weil keine hinreichenden Erfolgsaussichten bestehen, mag das zu diesem Zeitpunkt hinzunehmen sein. Sofern sich aber die Rechtsprechung oder auch die gesetzliche Lage ändert, wäre unbedingt darauf hinzuwirken, dass eine neuerliche Entscheidung durch den Rechtsschutzversicherer vorgenommen wird. Ist schon ein Prozess wegen des Deckungsanspruchs anhängig und ändert sich die Entscheidungsgrundlage während des Prozesses, lebt damit der einmal schon zu Recht versagte Deckungsanspruch nun gleichsam wieder auf. Das muss also die Anwältin bzw. der Anwalt eines rechtsschutzversicherten Mandanten im Blick behalten. Sie dürfen insb. nicht die Deckungsablehnung einfach endgültig hinnehmen, wenn der Mandant dennoch auf eigenes Risiko klagt, sondern müssen auch die Frage eines späteren Anspruchs auf Kostenschutz an die sich ändernden Gegebenheiten anpassen und möglicherweise erneut um Deckungsschutz nachsuchen. Klagt der Mandant nach Deckungsablehnung nicht, muss er zumindest darüber beraten werden, dass auch dann wieder Chancen auf eine Klage mit Kostenschutz bestehen, wenn sich – dann oft wider Erwarten – die Voraussetzungen für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ändern. Das wird zwar nicht alltäglich vorkommen, kann aber durchaus einmal Breitenwirkung entfalten, wie sich in vorliegendem Zusammenhang unschwer erkennen lässt. Im Wesentlichen wird es um Fälle gehen, in denen Rechtsfragen noch nicht vollständig geklärt sind. (bc) FRISTEN DER FLUCH DER TEXTBAUSTEINE 1. Die Zulässigkeit einer Berufung setzt voraus, dass ihre Berufungsbegründung auf den konkreten Streitfall zugeschnitten ist. 2. Ob eine Berufungsbegründung, die im Rahmen eines „Massenverfahrens“ ersichtlich zur vielfachen Verwendung in verschiedenen Verfahren vorgesehen und im Wesentlichen aus Textbausteinen zusammengesetzt ist, den diesbezüglich bestehenden Anforderungen standhält, ist im Einzelfall zu prüfen. OLG Celle, Urt. v. 4.4.2024 – 5 U 77/23, MDR 2024, 663 Das OLG Celle hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen, weil dessen Berufungsbegründung nicht den Anforderungen des § 520 III Nr. 2 und 3 ZPO entsprach. Zugrunde lag ein immer häufiger anzutreffendes Szenario, nämlich dass ein – behauptetes – Fehlverhalten einer Beklagten eine Vielzahl von Ansprüchen verschiedener Geschädigter nach sich zieht. Vermeintlich handelt es sich um eine Vielzahl „gleichgelagerter“ Fälle, die aus Sicht der Kläger entsprechend prozessual auch gleich zu behandeln wären. Es verwundert nicht, dass solche Verfahren als „Massenverfahren“ bezeichnet und häufig auch von einer Anwaltskanzlei gebündelt bearbeitet und im Prozess vertreten werden. Anlegerklagen und Diesel-SkandalFälle sind typische Beispiele hierfür. Im hier entschiedenen Fall ging es um einen „Datenscraping-Vorfall“. Der Beklagten als Betreiberin eines bekannten sozialen Netzwerks wurde vorgeworfen, die Datensätze ihrer Nutzer nicht genügend gegen das Auslesen durch Dritte geschützt zu haben. Eine Vielzahl von Nutzern verlangten u.a. immateriellen Schadensersatz. Nicht nur in den sog. Massenverfahren, sondern ganz allgemein (auch etwa in Anwaltshaftungsfällen) ist festzustellen, dass die Möglichkeit, sehr schnell per „copy and paste“ lange Textpassagen aus anderen Schriftsätzen oder auch aus im Internet veröffentlichten Urteilen JUNGK/CHAB/GRAMS, PFLICHTEN UND HAFTUNG DES ANWALTS - EINE RECHTSPRECHUNGSÜBERSICHT AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 4/2024 209
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