BRAK-Mitteilungen 5-6/2024

BRAK MITTEILUNGEN DEZEMBER 2024 · AUSGABE 5–6/2024 55. JAHRGANG AKZENTE RECHTSSTAAT GEHÖRT IN DIE FLÄCHE! Dr. Ulrich Wessels Es war ein kleiner Schock: Alle Arbeits- und Sozialgerichte sollen an einem einzigen Standort konzentriert und die Zahl der Amtsgerichte deutlich reduziert werden. Das verkündete Schleswig-Holsteins Justizministerin Kerstin von der Decken Ende September – wegen der angespannten Haushaltslage des Landes. „Zukunftsfähige Gerichtsstrukturen“ verspricht das Land sich davon. Was die Reform bedeuten würde? Menschen, bei denen es um „AmtsgerichtsStreitwerte“ unter 5.000 Euro, sozialoder arbeitsrechtliche Rechtsstreitigkeiten geht, hätten erheblich längere Wege zum Gericht – aber auch zu einer Anwältin oder einem Anwalt. Die Erfahrung aus anderen Bundesländern, etwa Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen, zeigt: Wo kein Gericht mehr ist, verschwinden nach und nach auch Anwaltskanzleien. Denn die Reisezeit zu Gericht spielt nun einmal für Kolleginnen und Kollegen, die forensisch tätig sind, eine bedeutende Rolle. Die Reformpläne betreffen vor allem jene Fachgerichte, die besonders häufig von einkommensschwächeren Bürgerinnen und Bürgern angerufen werden. Gerade für sie ist aber die räumliche Nähe der zuständigen Gerichte wichtig, nicht nur weil in vielen Fällen das persönliche Erscheinen der Parteien nötig ist. Sie brauchen auch die Möglichkeit, sich nah an ihrem Wohnort anwaltlich beraten zu lassen. Die höheren Kosten für weitere Wege – ihre eigenen, aber auch die Reisekosten ihrer anwaltlichen Vertretung – müssten am Ende sie tragen. So entfernt sich die Justiz nicht nur räumlich von den Bürgerinnen und Bürgern. Sie wird auch finanziell für viele noch schwerer erreichbar. Richterschaft, Justizbedienstete und Anwaltschaft trafen die Reformpläne völlig überraschend, sie waren in die Überlegungen der Landesregierung nicht einbezogen. Das sorgte für großes Befremden. Entsprechend scharf fielen die Reaktionen aus, auch die der BRAK. Klar ist: In Zeiten, in denen die Politikverdrossenheit zunimmt, antidemokratische Parteien erstarken, Anwältinnen und Anwälte immer häufiger abgewertet und bedroht werden und immer mehr Menschen die Grundsätze unseres Rechtsstaats offenbar nicht kennen und verstehen, kann es nicht richtig sein, an der Justiz zu sparen! Ganz im Gegenteil – man müsste gerade jetzt viel stärker in den Rechtsstaat investieren, ihn noch sichtbarer machen und besser erklären. Das wäre der beste Weg, diesen bedenklichen Entwicklungen entgegenzuwirken. Stattdessen will Schleswig-Holstein die Kosten für eine seiner Kernaufgaben faktisch auf Mitarbeitende, Anwältinnen und Anwälte, die Parteien von Rechtsstreitigkeiten, Zeuginnen und Zeugen, Sachverständige und andere Verfahrensbeteiligte verlagern, um den eigenen Geldbeutel zu schonen. Die massiven Proteste aus der gesamten Justizfamilie, von Sozialverbänden und aus der Zivilgesellschaft zeigten Wirkung: Justizministerin von der Decken hat zusammen mit den Präsidenten der Obergerichte Ende November bekannt gegeben, dass sie an ihren Plänen zur Strukturreform nicht festhalten wird. Das ursprüngliche Vorhaben, alle Arbeits- und Sozialgerichte in der Fläche abzuschaffen, ist weitgehend vom Tisch. Nun soll es zwei Fachgerichtszentren in Schleswig und Kiel für die Obergerichte geben; die Fachgerichte sollen in gemeinsame Gebäude ziehen und sich Personal teilen können. Aufgegeben werden soll nach dem neuen Konzept nur noch ein Arbeitsgerichtsstandort, ein anderer soll umziehen. So sollen zwar Einsparungen und Effizienzgewinne ermöglicht werden, aber die Fachgerichte weiterhin in der Fläche für Bürgerinnen und Bürger präsent bleiben. „Geht doch!“, möchte man sagen. Gleichwohl: Ausruhen dürfen wir uns auf diesem Erfolg nicht. Gerade in diesen Zeiten müssen wir unseren Rechtsstaat schützen, nicht nur gegen gefährliche Sparpläne, sondern auch gegen alle anderen denkbaren Gefährdungen. Auch im kommenden Jahr gilt es, hier wachsam zu bleiben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein besinnliches Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr! Ihr Dr. Ulrich Wessels AKZENTE BRAK-MITTEILUNGEN 5–6/2024 245

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