BRAK-Mitteilungen 5-6/2024

Wenn ein Sachverständiger nach Erstattung des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt worden ist, kann das Gericht die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anordnen, § 412 II ZPO. Trotz des Wortlauts des § 412 II ZPO („kann“) ist das Gutachten des abgelehnten Sachverständigen nach dem BGH grundsätzlich nicht mehr verwertbar.33 33 BGH, Urt. v. 5.12.2023 – VI ZR 34/22, DS 2024, 65 Rn. 7. Die erfolgreiche Ablehnung des Sachverständigen steht der Verwertbarkeit seines Gutachtens aber dann nicht entgegen, wenn die Partei, die sich auf die Befangenheit des Sachverständigen beruft, den Ablehnungsgrund in rechtsmissbräuchlicher Weise provoziert hat und gleichzeitig kein Anlass zu der Besorgnis besteht, dass die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen schon bei Erstellung seiner bisherigen Gutachten beeinträchtigt gewesen ist.34 34 BGH, Urt. v. 5.12.2023 – VI ZR 34/22, DS 2024, 65 (Leitsatz 2). 4. VERHANDLUNG IM WEGE DER BILD- UND TONÜBERTRAGUNG a) AUSGESTALTUNG VON „VIDEOKONFERENZEN“ Nach dem BFH muss bei einer sog. „Videokonferenz“ für die Beteiligten während der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung – ähnlich wie bei einer körperlichen Anwesenheit im Verhandlungssaal – feststellbar sein, ob die beteiligten Richter in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen.35 35 BFH, Beschl. v. 30.6.2023 – V B 13/22, NJW 2023, 259 (Leitsatz 1 Satz 1). Dies erfordert, dass alle zur Entscheidung berufenen Richter während der „Videokonferenz“ für die lediglich „zugeschalteten“ Beteiligten sichtbar sind.36 36 BFH, Beschl. v. 30.6.2023 – V B 13/22, NJW 2023, 259 (Leitsatz 1 Satz 2). Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn für den überwiegenden Zeitraum der mündlichen Verhandlung nur der Vorsitzende Richter des Senats im Bild zu sehen ist.37 37 BFH, Beschl. v. 30.6.2023 – V B 13/22, NJW 2023, 259 (Leitsatz 1 Satz 3). Auf die Beachtung der Vorschriften über die Besetzung des Gerichts kann nicht wirksam verzichtet werden; dies ist der Disposition der Beteiligten entzogen.38 38 BFH, Beschl. v. 30.6.2023 – V B 13/22, NJW 2023, 259 (Leitsatz 2). Bei einer Videoverhandlung muss nach dem BFH jeder Beteiligte zeitgleich die Richterbank und die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen können.39 39 BFH, Beschl. v. 18.8.2023 – IX B 104/22, BeckRS 2023, 27266 (Leitsatz 1). Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn ein im Gerichtssaal anwesender Beteiligter den zugeschalteten Beteiligten nur sehen kann, wenn er selbst sich 180 Grad dreht.40 40 BFH, Beschl. v. 18.8.2023 – IX B 104/22, BeckRS 2023, 27266 (Leitsatz 2). Ist der Kläger vor Gericht nicht rechtskundig vertreten, verliert er bei (verzichtbaren) Verfahrensmängeln (hier: Verletzung des rechtlichen Gehörs) sein Rügerecht nicht durch rügelose Verhandlung zur Sache.41 41 BFH, Beschl. v. 18.8.2023 – IX B 104/22, BeckRS 2023, 27266 (Leitsatz 3). b) REISEKOSTEN BEI PERSÖNLICHER ANWESENHEIT TROTZ GESTATTUNG NACH § 128A I ZPO Die Reisekosten eines Prozessbevollmächtigten zu einer mündlichen Verhandlung sind auch dann erstattungsfähig, wenn das Gericht ihm nach § 128a I ZPO gestattet hat, an der Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung teilzunehmen.42 42 LG Frankenthal, Beschl. v. 8.9.2023 – 3 O 103/21, BeckRS 2023, 28585; bestätigt durch OLG Zweibrücken, Beschl. v. 9.10.2023 – 6 W 47/23, BeckRS 2023, 28591; zustimmend: BeckOK ZPO/Jaspersen, 52. Ed. 1.3.2024, ZPO § 91 Rn. 168a. c) TEILNAHME AN VIDEOKONFERENZ AUS DEM AUSLAND Einer Gestattung nach § 128a I ZPO steht es nicht entgegen, dass die Partei oder ihr Prozessbevollmächtigter aus dem Ausland an der Verhandlung teilnehmen möchte. Soweit nicht die Parteien oder Beteiligten persönlich angehört werden sollen, ist damit keine unzulässige Beeinträchtigung der territorialen „Integrität“ (Souveränität) des Aufenthaltsstaats verbunden.43 43 LAG Hamburg, Beschl. v. 14.6.2023 – 7 TaBV 1/23, BeckRS 2023, 34472 (Leitsatz 1); LG Berlin Beschl. v. 14.12.2023 – 93 O 16/23, BeckRS 2023, 41293 Rn. 2 ff.; str. vgl. Musielak/Voit/Stadler, 21. Aufl. 2024, ZPO § 128a Rn. 2a; hierzu bereits: Windau, jM 2021, 178, 185. d) WEITERE UNGESCHRIEBENE VORAUSSETZUNGEN FÜR VIDEOVERHANDLUNGEN? Nach dem FG Nürnberg können Anträge auf Durchführung einer Videoverhandlung abgelehnt werden, wenn sie so kurzfristig gestellt werden, dass dem Gericht keine „ausreichende Vorbereitungszeit“44 44 FG Nürnberg, Beschl. v. 11.4.2024 – 6 K 873/22, BeckRS 2024, 9105 Rn. 5. verbleibt. Sie können auch dann abgelehnt werden, wenn das Gericht begründete Zweifel an der persönlichen Fähigkeit des Beteiligten, „die Videoanlage zu bedienen“, hat.45 45 FG Nürnberg Beschl. v. 10.4.2024 – 6 K 860/22, BeckRS 2024, 8926 Rn. 16. Nach der Neufassung von § 128a ZPO, die nur noch auf die Eignung der Fälle und auf die technische Ausstattung des Gerichts abstellt (s. II.7.), dürften die Gerichte hierauf eine ablehnende Entscheidung künftig nicht mehr stützen; sedes materiae ist vielmehr § 337 S. 1 ZPO.46 46 OLG Celle, Beschl. v. 15.9.2022 – 24 W 3/22, NJW-RR 2022, 1653; vgl. Ultsch, BRAK-Mitt. 2023, 224, 225 f. Auch im Rahmen der Ermessensausübung sind solche Gesichtspunkte nicht mehr berücksichtigungsfähig, da es das Ziel der Neufassung von § 128a ZPO ist, „den Einsatz von Videokonferenztechnik... zu fördern“.47 47 BT-Drs. 20/8095, 1. Dieses Ziel hat der Gesetzgeber trotz der umfangreichen Änderungen im Vermittlungsverfahren nicht aufgegeben; sonst hätte er insbesondere den Gesetzesnamen („Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik ...“) geändert. ULTSCH, DIE ENTWICKLUNG DES ZIVILVERFAHRENSRECHTS BRAK-MITTEILUNGEN 5–6/2024 AUFSÄTZE 252

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