BRAK-Mitteilungen 5-6/2024

ZPO und der Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung (ERVV). 7. GESETZ ZUR „FÖRDERUNG“ DES EINSATZES VON VIDEOKONFERENZTECHNIK IN DER ZIVILGERICHTSBARKEIT UND DEN FACHGERICHTSBARKEITEN Von herausragender praktischer Bedeutung ist die Neuregelung der Videoverhandlungen an den Zivilgerichten durch das Gesetz zur „Förderung“ des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten.90 90 BGBl. 2024 I Nr. 237. Das Gesetz trat am 19.7.2024 inKraft. Eine wichtige Streitfrage im Gesetzgebungsverfahren war, wer letztlich das Sagen darüber hat, ob ein Gerichtstermin als Videoverhandlung stattfindet. Steht dem Gericht insoweit ein „freies Ermessen“ zu oder ist auf Verlangen der Parteien eine Videoverhandlung – jedenfalls in der Regel – durchzuführen? Gestattet das Gericht nur die „Online“-Teilnahme oder ordnet es sie (verbindlich) an – mit der Folge, dass in diesem Fall eine Präsenzteilnahme nicht möglich ist? Muss das Gericht die Ablehnung einer Videoverhandlung begründen und ist die Ablehnung beschwerdefähig? Soll es auch den Richterinnen und Richtern gestattet sein, online an der Verhandlung teilzunehmen? Nachdem bereits der Rechtsausschuss des Bundestages91 91 BT-Drs. 20/9354. am 15.11.2023 erhebliche Änderungen des Regierungsentwurfs vom 23.8.202392 92 BT-Drs. 20/8095. vorgenommen hatte, bremste der Bundesrat das Vorhaben, in dem er am 15.12.2023 den Vermittlungsausschuss anrief.93 93 BR-Drs. 604/23(B). Am 12.6.2024 einigte sich der Vermittlungsausschluss auf eine Beschlussempfehlung.94 94 BT-Drs. 20/11770. Nunmehr sind Videoverhandlungen95 95 Zum Einsatz von Videokonferenztechnik bei Geheimhaltungsanordnungen: Beschluss der Justizminister-Frühjahrskonferenz 2024 zu TOP I.12. (nur noch) möglich bei Fällen, die sich dafür eignen und auch nur soweit ausreichende technische Kapazitäten zur Verfügung stehen (Armutszeugnis!).96 96 Vgl. auch: Spoenle, NJW 2024, 2647, 2649 Rn. 9. Und leider haben die Parteien nicht einmal dann einen Anspruch auf eine Videoverhandlung, wenn sich ihr Fall hierfür eignet und ausreichende Kapazitäten zur Verfügung stehen, § 128a III ZPO-E. Nach wie vor leuchtet es nicht ein, warum der Gesetzgeber meint, die Parteien bevormunden zu müssen, und es nicht einfach jeder Partei überlässt, selbst zu entscheiden, wie sie an einer mündlichen Verhandlung teilnimmt.97 97 Zutreffend: Windau, ZPO-Blog v. 19.4.2024; ebenso zu UWG-Verfahren: Fries/Podszun/Windau, RDi 2020, 49 Rn. 23. Jedes Bundesgesetz zur „Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik“98 98 Zu Recht gegen die irreführende Gesetzesbezeichnung: Windau, ZPO-Blog v. 21.7. 2024. stößt derzeit an eine reale Grenze, nämlich die (unzulässig)99 99 Zutreffend: BeckOK ZPO/von Selle, 52. Ed. 1.4.2024, § 128a Rn. 2.2. magere Ausstattung der Gerichte mit videokonferenztauglichen Gerichtssälen.100 100 Ultsch, BRAK-Mitt. 2024, 224, 232 Fn. 106. Kritisch zur fehlenden technischen Unterstützung der Richter: Spoenle, NJW-Editorial 2022; vgl. auch Duhe/Weißenberger, RDi 2022, 176. Ab dem 1.5.2025 bedarf es für eine grenzüberschreitende Zeugenvernehmung mittels Videokonferenz keines Rechtshilfeersuchens mehr.101 101 Art. 5 I, 26 II der Verordnung (EU) 2023/2844 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.12.2023 über die Digitalisierung der justiziellen Zusammenarbeit und des Zugangs zur Justiz in grenzüberschreitenden Zivil-, Handels- und Strafsachen und zur Änderung bestimmter Rechtsakte im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit, ABl. L, 2023/2844, 27.12.2023. 8. GESETZ ZUR WEITEREN DIGITALISIERUNG DER JUSTIZ Das Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz102 102 BGBl. 2024 I Nr. 234. sieht in § 130e ZPO-E103 103 BR-Drs. 126/24 (Regierungsentwurf) und BT-Drs. 20/11788 (Beschlussempfehlung und Bericht Rechtsausschuss). für empfangsbedürftige Willenserklärungen, die klar „erkennbar in einem vorbereitenden Schriftsatz enthalten“ sind, eine Formfiktion vor. Die Formen der §§ 126, 126a BGB sollen im Prozess über elektronische Dokumente nach § 130a ZPO gewahrt sein. Eine vergleichbare Formfiktion soll auch für Formvorschriften des Verfahrensrechts gelten, § 130a III ZPO-E. Die Neuregelungen gelten seit dem 17.7. 2024. Bei einseitigen Rechtsgeschäften, die ein Anwalt schriftsätzlich für seinen Mandanten erklärt, gilt freilich § 174 BGB. Ob auch insoweit die Formfiktion, ggf. analog, gilt, ist offen.104 104 Leider hat der Gesetzgeber entsprechende Hinweise (BRAK-Stn.-Nr. 65/2023) nicht zum Anlass für eine Klarstellung genommen. Zum 1.9.2024 wurden die für bestimmte Zwangsvollstreckungsanträge zwingend zu verwendenden Formulare aktualisiert.105 105 Zweite Verordnung zur Änderung der Zwangsvollstreckungsformular-Verordnung v. 17.6.2024 (BGBl. I Nr. 203). Die bisherigen Formulare dürfen noch bis 30.9.2025 verwendet werden, § 6 ZVFV n.F. 9. JUSTIZSTANDORT-STÄRKUNGSGESETZ Seit 2010 diskutiert der Gesetzgeber die Einrichtung von Kammern für Internationale Handelssachen106 106 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Kammern für internationale Handelssachen (KfiHG) der Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg: BR-Drs. 42/10. mit Englisch als Gerichtssprache. Damit große Wirtschaftsstreitigkeiten nicht weiter ins Ausland oder in die Schiedsgerichtsbarkeit abwandern, sollen die Länder ermächtigt werden, die landgerichtlichen Zivilverfahren im Bereich der Wirtschaftszivilsachen für die Gerichtssprache Englisch zu öffnen (Commercial Chambers). Zudem soll den Ländern die Befugnis eingeräumt werden, einen Commercial Court an einem Oberlandesgericht oder einem Obersten Landesgericht einzurichten. Dort sollen Wirtschaftszivilsachen ab einem Streitwert von 500.000 Euro107 107 BT-Drs. 20/11466. erstinstanzlich geführt werden können, sofern sich die Parteien auf die erstinstanzliche Anrufung des Commercial Courts verständigt haben. AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 5–6/2024 257

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