Eine Anwältin legte erst nach Ablauf der Berufungsfrist Berufung ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Sie habe am Tag des Fristablaufs wegen eines unvorhergesehenen Schwindels die Kanzlei vor Fertigstellung der Berufungsschrift verlassen müssen, um sich zuhause auszuruhen. Dabei habe sie den Kanzleischlüssel in den Büroräumen vergessen und sei nicht mehr in die Kanzlei gekommen, als sie um 19 Uhr dorthin zurückgefahren sei, um die Berufungsschrift fertigzustellen. Eine Kanzleikollegin sei auf einem Auswärtstermin gewesen und habe deshalb nicht kommen und aufsperren können. Telefonnummern weiterer Kollegen oder der Sekretärin habe sie nicht in ihrem Handy gespeichert. Das OLG wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Der BGH verwarf die Rechtsbeschwerde als unzulässig. Es sei nicht dargelegt, warum die Anwältin nicht z.B. zu der im Außentermin befindlichen Kollegin gefahren sei, um den Kanzleischlüssel abzuholen, oder warum sie diese nicht nach den Telefonnummern weiterer Kanzleikollegen oder Mitarbeiter gefragt habe. Auch sei nicht vorgetragen, dass es nicht möglich gewesen sei, Kanzleikollegen oder Mitarbeiter auf anderem Wege als telefonisch zu kontaktieren oder einen Schlüsseldienst mit der Öffnung der Kanzleitür zu beauftragen. Es sei daher weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, dass alle erforderlichen und zumutbaren Schritte unternommen worden seien, um die Frist doch noch zu wahren. Der Fall zeigt einmal mehr, dass Anwältinnen und Anwälte, wenn schon ein Missgeschick passiert, alles Zumutbare unternehmen bzw. ggf. im Einzelnen darlegen müssen, warum denkbare Rettungsmaßnahmen nicht gangbar gewesen seien. (hg) KONTROLLPFLICHTEN AUCH IM HOME-OFFICE Bei Erstellung eines fristgebundenen Schriftsatzes (hier: Berufungsbegründung) hat der Rechtsanwalt auch dann die durch seine Kanzleikraft zuvor vorgenommene Fristberechnung zu überprüfen, wenn er im Home-Office tätig ist und ihm die papiergebundene Handakte dort nicht vorliegt. Unterlässt er eine solche Prüfung, kommt eine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist nicht in Betracht. OLG Dresden, Beschl. v. 12.8.2024 – 4 U 862/24 Gegen ein am 22.5.2024 zugestelltes Urteil wurde am Montag, den 24.6.2024, fristgerecht Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründung ging erst am Mittwoch, den 24.7.2024, also verspätet beim OLG ein. Nach einem Hinweis des OLG beantragte die Prozessbevollmächtigte Wiedereinsetzung. Die Begründungsfrist sei von der zuverlässigen Kanzleimitarbeiterin fehlerhaft im Fristenkalender eingetragen worden (offenbar irrtümlich ausgehend vom Ende der Einlegungsfrist berechnet, die sich aufgrund des Wochenendes um zwei Tage verlängert hatte, was sich aber auf die Begründungsfrist richtigerweise nicht auswirkt). Die Anwältin habe den Fehler nicht bemerkt, da sich das Empfangsbekenntnis „in der Papierakte“ befinde, sie aber „mit elektronischen Dokumenten“ (offenbar im Home-Office) arbeite. Das OLG wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Es liege auch ein Verschulden der Anwältin vor, da diese die von der Mitarbeiterin berechnete und eingetragene Begründungsfrist nicht überprüft habe, obwohl sie hierzu anlässlich der Berufungseinlegung, des Ablaufs der Vorfrist für die Berufungsbegründung oder der (rechtzeitigen) Erstellung des Begründungsentwurfs verpflichtet gewesen wäre.13 13 St.Rspr., z.B. BGH, MDR 2023, 453; NJW-RR 2017, 953. Dieses Versäumnis entfalle auch nicht deshalb, weil der Anwältin die in Papierform geführte Handakte nicht vorgelegen habe. Die anwaltliche Prüfungspflicht erfordere, dass ggf. die Vorlage der Handakte zur Fristenkontrolle zu veranlassen ist.14 14 Z.B. BGH, MDR 2010, 533; BRAK-Mitt. 2013, 118. Entscheidend für eine eigenständige Fristenprüfung durch den Anwalt sei allein, ob die Bearbeitung mit dem Ziel einer fristgebundenen Verfahrenshandlung, d.h. hier der Berufungsbegründung erfolgt. Diese Pflicht bestehe auch dann, wenn der Anwalt die fristgebundene Verfahrenshandlung im Wege der Tele- oder Fernarbeit erstelle. Er habe in diesen Fällen dafür Sorge zu tragen, dass ihm dabei entweder die Papierhandakte vorliegt oder diese in eine elektronische Form übertragen wird, auf die er auch von auswärts zugreifen kann. Die Sorgfaltsanforderungen würden durch die mit dem mobilen Arbeiten verbundene Ortsunabhängigkeit in keiner Weise eingeschränkt. (hg) VOR UNTERZEICHNUNG MUSS JEDER SCHRIFTSATZ INHALTLICH GEPRÜFT WERDEN Die Unterzeichnung eines Schriftsatzes als prozessrechtlich allein dem Prozessbevollmächtigten vorbehaltene Handlung bietet Anlass zur Kontrolle eines vom Kanzleipersonal hergestellten Dokuments und löst für den Rechtsanwalt eine entsprechende Verpflichtung aus: Was man unterschreibt, sollte man vorher gelesen haben. BVerwG, Beschl. v. 16.9.2024 – 6 B 6.24, NVwZ 2024, 1778 Mehr Fristversäumnis geht wohl kaum: Der Kläger hatte seine Bachelorarbeit nicht rechtzeitig abgegeben und deshalb wurde diese als „nicht bestanden“ gewertet. Sein Widerspruch wurde zurückgewiesen, die anschließende Klage abgewiesen, weil es im Vorverfahren an einer form- und fristgerechten Erhebung des Einspruchs mangelte. Hiergegen wurde nunmehr durch die Prozessbevollmächtigte des Klägers ein Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, die der Verwaltungsgerichtshof dann auch tatsächlich zuließ. Zum Aktenzeichen des Zulassungsverfahrens reichte die Prozessbevollmächtigte einen Schriftsatz ein, der mit dem Vermerk „Berufungszulassungsantrag“ versehen war und in dem ein entsprechender Antrag auf Zulassung gestellt wurde. Nach Ablauf der BerufungsbeJUNGK/CHAB/GRAMS, PFLICHTEN UND HAFTUNG DES ANWALTS – EINE RECHTSPRECHUNGSÜBERSICHT AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 5–6/2024 279
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