BRAK-Mitteilungen 1/2025

praktizierte Grundsätze des EuGH – im Grunde handelt es sich um althergebrachte Rechtsprechung, die aus der Formulierung der Warenverkehrsfreiheit in nunmehr Art. 36 AEUV, in der Präzisierung etwa durch die „Cassis de Dijon“-Entscheidung des EuGH4 4 EuGH, Urt. v. 20.2.1979 – Rs. 120/78. abgeleitet und mit den Definitionen der Dassonville-Formel5 5 EuGH, Urt. v. 11.7.1974 – Rs. 8/74. auf alle Grundfreiheiten ausgedehnt wurden. Überdies sind sie in der Richtlinie 2006/123 ausdrücklich verankert. Somit spricht das Urteil die zu erwartenden Prüfmaßstäbe an: a) ANWALTLICHE UNABHÄNGIGKEIT UND VERBRAUCHERSCHUTZ ALS ZWINGENDE GRÜNDE DES ALLGEMEININTERESSES Zutreffend kurz stellt der Gerichtshof die Nichtdiskriminierung fest, um sich sogleich „auf große Fahrt“ zu begeben. Zweck der Regelungen, die den Fremdbesitz ausschließen, sind nach der Zielsetzung des deutschen Gesetzgebers die anwaltliche Unabhängigkeit und Integrität sowie die Wahrung des Transparenzgebots und die Beachtung der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht. Für den EuGH ist „offensichtlich“, dass diese Zielsetzung mit dem Schutz der Dienstleistungsempfänger, hier der Empfänger von Rechtsdienstleistungen, und mit der Wahrung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege zusammenhängt. Beides qualifiziert er ohne Weiteres als zwingende Gründe des Allgemeininteresses. Zugleich mag die Reihenfolge überraschen: Der EuGH sieht – wie auch die Kommission – den Verbraucherschutz als eine genuin europäische „Erfindung“ an, während die Rechtspflege aus dem historischen Interessenkreis der Mitgliedstaaten stammt. Mit seinem Verweis auf frühere Urteile macht der Gerichtshof zugleich deutlich, dass für ihn dies ein ganz allgemeiner und selbstverständlicher Grundgedanke ist. Hierauf folgt als Kernaussage, dass die anwaltliche Vertretungsaufgabe vor allem darin besteht, „in völliger Unabhängigkeit und unter Beachtung des Gesetzes sowie der Berufs- und Standesregeln die Interessen des Mandanten bestmöglich zu schützen und zu verteidigen.“6 6 EuGH, Urt. v. 19.12.2024 – Rs. C-295/23 Rn. 66, BRAK-Mitt. 2025, 40 (in diesem Heft). Das definiert der EuGH weiter wie folgt: „Den Rechtsanwälten wird die in einer demokratischen Gesellschaft grundlegende Aufgabe übertragen, für die Rechtsuchenden einzutreten. Diese Aufgabe impliziert zum einen das Bestehen der Möglichkeit für jeden Rechtsuchenden, sich völlig frei an seinen Rechtsanwalt zu wenden.“ Zum Beruf des Rechtsanwalts gehöre es „seinem Wesen nach“, „all denen unabhängig Rechtsberatung zu erteilen, die sie benötigen.“ b) VERHÄLTNISMÄSSIGKEIT: MÖGLICHE EINFLUSSNAHME DURCH FINANZINVESTOREN Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist danach vorgezeichnet. Der EuGH examiniert, ob zu den vorhergehend bestimmten Zwecken der Ausschluss der Beteiligung von Finanzinvestoren geeignet und erforderlich ist. Der Kernsatz lautet, dass sich „das Bestreben eines reinen Finanzinvestors, seine Investition ertragreich zu gestalten“ auf die Organisation und die Tätigkeit einer Rechtsanwaltsgesellschaft auswirken könnte. Dem EuGH reicht die in der Art nicht ganz fernliegende Möglichkeit aus. Der Gerichtshof nimmt zwar zur Kenntnis, dass die klagende Rechtsanwaltsgesellschaft in ihre Satzung Bestimmungen aufgenommen hat, die Interessenkonflikte im Sinne der anwaltlichen Unabhängigkeit ausschließen oder reduzieren sollen, mit dem Abstellen auf die Möglichkeit einer Einflussnahme, sieht er diese Bestimmungen jedoch als nicht ausreichend an.7 7 EuGH, Urt. v. 19.12.2024 – Rs. C-295/23 Rn. 74, BRAK-Mitt. 2025, 40 (in diesem Heft). Es mag erstaunen, dass der EuGH relativ deutlich die real drohenden Möglichkeiten für gewichtiger befindet als die rechtliche Bestimmung des privaten Rechts. Dies entspricht aber der Perspektive, die der EuGH seit jeher einnimmt. Hierin zeichnet sich ein wenig beachtetes Kennzeichen der Rechtsprechungslinie des Gerichtshofs ab: Ihm genügt die Möglichkeit der Konsequenz – dies zeigt sich schon in der Dassonville-Formel, in der das verbotene Handelshindernis dadurch definiert ist, dass es „geeignet ist, ... unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“. Mit „geeignet“ und „potentiell“ wird zweifach die Möglichkeit als entscheidend ausgewiesen. Das gilt auch in anderer Richtung, wenn die Abwehr von Gefahren zur Debatte steht. c) LEGITIMITÄT DES FREMDBESITZVERBOTS Vor diesem Hintergrund befindet der EuGH, dass es legitim ist, wenn der nationale Gesetzgeber den Fremdbesitz verbietet. Und hier bildet sich eine der Schnittstellen zu den Schlussanträgen des Generalanwalts Campos Sa´nchez-Bordona, der nicht nur gleichfalls den Mitgliedstaaten einen weiten Wertungsspielraum eingeräumt hat,8 8 Wie auch der EuGH selbst in vorausgehenden Entscheidungen betonte – vgl. hierzu u.a. das Urt. in der Rs. Kommission/Französische Republik v. 16.12.2010, C-89/ 09. sondern der geordneten Rechtspflege einen besonders hohen Stellenwert und dem Fremdbesitzverbot die Geeignetheit und Erforderlichkeit zuspricht, das Ziel ihrer Wahrung sowie der Sicherung anwaltlicher Unabhängigkeit zu erreichen.9 9 Schlussanträge des Generalanwalts v. 4.7.2024, C-295/23. Sowohl der Generalanwalt als auch der Gerichtshof befinden, dass das europäische Recht weder eine Öffnung des Gesellschafterkreises von Berufsausübungsgesellschaften, noch den Zugang für reine Finanzinvestoren, die gerade nicht dem sozietätsfähigen Beruf angehören, erzwingt. Das auch in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Argument, dass auch der Rechtsanwalt und ergo die Anwaltskanzlei ökonomische Interessen verfolgt und Erträge erzielen muss, um seine Tätigkeit ausüben zu könPOTT/WIETOSKA, EUROPÄISCHER GERICHTSHOF BESTÄTIGT FREMDBESITZVERBOT AUFSÄTZE BRAK-MITTEILUNGEN 1/2025 3

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