BRAK-Mitteilungen 1/2025

[72] Zweitens steht es in Ermangelung einer Harmonisierung der für den Rechtsanwaltsberuf geltenden Berufs- und Standesregeln auf Unionsebene grundsätzlich jedem Mitgliedstaat frei, die Ausübung dieses Berufs in seinem Hoheitsgebiet zu regeln. Die für den Rechtsanwaltsberuf geltenden Regeln können daher in den einzelnen Mitgliedstaaten erheblich voneinander abweichen (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 19.2.2002, Wouters u.a., C-309/99, EU:C:2002:98, Rn. 99, v. 2.12.2010, Jakubowska, C-225/09, EU:C:2010:729, Rn. 57, und v. 7.5.2019, Monachos Eirinaios, C-431/17, EU:C:2019: 368, Rn. 31). [73] Unter diesen Umständen kann ein Mitgliedstaat in Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten Anbetracht des ihm somit eingeräumten Beurteilungsspielraums legitimerweise davon ausgehen, dass der Rechtsanwalt nicht in der Lage wäre, seinen Beruf unabhängig und unter Beachtung seiner Berufs- und Standespflichten auszuüben, wenn er einer Gesellschaft angehörte, zu deren Gesellschaftern Personen zählen, die zum einen weder den Rechtsanwaltsberuf noch einen anderen Beruf ausüben, für den es Regulative in Form von Berufs- und Standesregeln gibt, und die zum anderen ausschließlich als reine Finanzinvestoren handeln, ohne die Absicht zu haben, in dieser Gesellschaft eine entsprechende Berufstätigkeit auszuüben. Dies gilt erst recht, wenn es wie im Ausgangsverfahren um den Erwerb der Mehrheit der Geschäftsanteile an der in Rede stehenden Rechtsanwaltsgesellschaft durch einen solchen Investor geht. [74] Ebenfalls unter Berücksichtigung dieses Beurteilungsspielraums ist die Einschätzung eines Mitgliedstaats legitim, wonach die Gefahr besteht, dass sich bei der Beteiligung eines reinen Finanzinvestors am Kapital einer Rechtsanwaltsgesellschaft in Anbetracht des Einflusses – sei er auch mittelbar –, den dieser Investor auf die Geschäftsführung und die Tätigkeiten der Gesellschaft durch im Wesentlichen oder sogar ausschließlich an der Gewinnerzielung ausgerichtete Entscheidungen über Investitionen oder Nicht- bzw. Desinvestitionen ausüben könnte, die Maßnahmen, die in nationalen Rechtsvorschriften oder in Satzungen von Rechtsanwaltsgesellschaften vorgesehen sind, um die berufliche Unabhängigkeit und Integrität der in einer Gesellschaft tätigen Rechtsanwälte zu wahren, in der Praxis als unzureichend erweisen, um die Erreichung der oben in den Rn. 0 bis 66 angeführten Ziele effektiv sicherzustellen. [75] Was als Zweites die Kapitalverkehrsfreiheit betrifft, Prüfung anhand Kapitalverkehrsfreiheit die durch Art. 63 AEUV verbürgt ist, so fallen unter diesen Artikel Direktinvestitionen in Form der Beteiligung an einer Gesellschaft durch Aktienbesitz, die die Möglichkeit verschafft, sich tatsächlich an der Verwaltung dieser Gesellschaft und deren Kontrolle zu beteiligen, sowie der Erwerb von Wertpapieren allein in der Absicht einer Geldanlage, ohne auf die Verwaltung und Kontrolle der Gesellschaft Einfluss nehmen zu wollen (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 17.9.2009, Glaxo Wellcome, C-182/08, EU:C:2009: 559, Rn. 40, und v. 21.12.2016, AGET Iraklis, C-201/15, EU:C:2016:972, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). [76] Zu den Maßnahmen, die nach Art. 63 I AEUV als Beschränkungen des Kapitalverkehrs verboten sind, gehören u.a. solche, die geeignet sind, gebietsfremde Gesellschaften von Investitionen in einem Mitgliedstaat abzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 6.3.2018, SEGRO und Horva´th, C-52/16 und C-113/16, EU:C:2018: 157, Rn. 65). So sind nationale Maßnahmen als „Beschränkungen“ i.S.d. Art. 63 I AEUV anzusehen, wenn sie geeignet sind, den Erwerb von Aktien gebietsansässiger Gesellschaften zu verhindern oder zu beschränken oder aber Investoren aus anderen Mitgliedstaaten davon abzuhalten, in das Kapital dieser Gesellschaften zu investieren (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 21.10.2010, Idryma Typou, C-81/09, EU:C:2010:622, Rn. 55). [77] Im vorliegenden Fall bewirkt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, dass andere Personen als Rechtsanwälte und Angehörige der in § 59a BRAO a.F. genannten Berufe am Erwerb von Geschäftsanteilen an einer Rechtsanwaltsgesellschaft gehindert sind, so dass sie Investoren aus anderen Mitgliedstaaten, die weder Rechtsanwälte noch Angehörige eines solchen Berufs sind, den Erwerb von Beteiligungen an dieser Art von Gesellschaften verwehrt (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 19.5.2009, Kommission/Italien, C531/06, EU:C:2009:315, Rn. 47). Damit einhergehend verwehrt diese nationale Regelung den Rechtsanwaltsgesellschaften den Zugang zu Kapital, das bei ihrer Gründung oder Entwicklung förderlich sein könnte. Folglich liegt in ihr eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs. [78] Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs, die ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar sind, können jedoch durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sofern sie geeignet sind, die Erreichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urt. v. 19.5.2009, Kommission/ Italien, C-531/06, EU:C:2009:315, Rn. 49). [79] Insoweit führt die Würdigung, die oben in den Rn. 0 bis 74 zu Art. 15 III der Richtlinie 2006/123 erfolgt ist, im Hinblick auf Art. 63 AEUV zu keinem anderen Ergebnis. [80] Demnach ist auf die erste, die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 15 II Buchst. c und III der Richtlinie 2006/123 sowie Art. 63 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der es unzulässig ist, dass Geschäftsanteile an einer Rechtsanwaltsgesellschaft auf einen reinen Finanzinvestor übertragen werden, der EUROPA BERUFSRECHTLICHE RECHTSPRECHUNG BRAK-MITTEILUNGEN 1/2025 51

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